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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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ob das Leben, das in mancher Hinsicht an Intensität zunahm mit der Krankheit, beim Essen immer fader wurde und langsam
     jede Konsistenz verlor.
    »Willst du noch ein bisschen Zwetschgendatschi?«
    »Hast du ihn bei Rischardt gekauft?«
    »Klar, das hast du doch gesagt.«
    »Das ist der Einzige, den ich essen kann, die backen den wirklich noch selbst, ohne Hefe im Teig. Wenn Hefe im Teig ist, vertrage
     ich es nicht.«
    Ich nahm ihren Teller, auf dem ein fast unberührtes Schollenfilet lag und ein wenig Gemüse, und ging hinein. Ich stellte den
     Teller in die Spüle, holte etwasSchlagsahne aus dem Kühlschrank, suchte den Mixer, schlug die Schlagsahne, hörte das Geräusch des Mixers nicht und schaute
     durch das Fenster in den Garten, der blühte und wucherte; an einigen Stellen wickelte sich eine Art Unkraut um die Stängel
     der Büsche und Blumen, und wenn meine Mutter sich nicht darum kümmerte, würden sie bald verdorren.

    Im Mai 1994 wurde meine Mutter im Krankenhaus in München-Harlaching von Professor Jonatha an der linken Brust operiert, so
     steht es in dem Computerfile, das ich nach dem Tod auf ihrem Laptop gefunden habe. »Krankheitsverlauf 2« heißt dieses File,
     einen »Krankheitsverlauf 1« habe ich nicht gefunden. Es ist ein Protokoll der Angst.
    »Lymphknoten o. B.«, so lautet der nächste Eintrag, ohne Befund also, und dieses »o. B.« zieht sich durch die Aufzeichnungen,
     als wolle sie etwas beschwören.
    Nach der Operation erhielt sie fünf Wochen lang ambulante Strahlentherapie. Im Dezember 1995 wurden »hohe Tumormarker« festgestellt,
     der Krebs war wieder da. Die Tumormarker wurden für sie Wasserstandsmeldungen, die das Leben bestimmen, im Auf und Ab von
     Hoffnung, Alltag, Krankheit. Immer wieder musste sie zu Untersuchungen und Durchleuchtungen, »o.B.« notierte sie im Juni 1996,
     »o. B.« auch ein paar Monate später. Sie machte Sonografie, Mammografie, Mistel-Therapie, von 1995 bis 1997. Im Dezember 1997
     wurden erneut erhöhte Tumormarker festgestellt. SeitOktober ließ sie sich Baypamon spritzen, wie man das auch bei Tieren macht, zur Stärkung der Abwehrkräfte. Im Juni 1998 konnte
     ihr Arzt verdickte Lymphknoten am Hals ertasten.
    Die Einträge sind alle nüchtern gehalten und knapp, Datum, Befund, Behandlung; aber hinter dieser Dramaturgie verbirgt sich
     all das, was sich nicht behandeln lässt.
    »Seltsam, ich fühle mich so gut«, das sagte sie oft in diesen Monaten und auch später, als wollte sie etwas beschwören, als
     könnte das Leben das Sterben aufhalten. Und es ging ihr tatsächlich gut. Während der Körper wieder krank wurde, lebte sie
     so, wie sie es immer gewollt hatte. Im Grunde fand sie diese Freiheit erst, als die Krankheit sie zwang, als die Krankheit
     sie dazu brachte, die Widersprüche ihrer Biografie hinter sich zu lassen, als sie nicht mehr die gute Tochter sein musste
     oder die schwierige Schwester, die brave Pfarrfrau oder die böse Geschiedene, die scharfsinnige Therapeutin oder die komplizierte
     Kollegin. Diesen Druck nahm ihr die Krankheit, und so war sie in diesen Jahren auf eine Art und Weise sie selbst, die sie
     selbst am meisten überraschte.
    Aber die Krankheit mischte sich immer wieder in ihr Leben. Es folgten weitere Computertomografien am Kopf und eine Sonografie
     der Brust und der Eierstöcke, die Tumormarker stiegen wieder an, die erste Chemotherapie war am 17. Februar 1999, danach am
     8. März, 29. April, 3. Mai, »ambulant mitFluororazia«, wie sie notierte. Am 14. Februar 2000 begann sie mit einer zweiten Chemotherapie, »seitdem erhebliche Beschwerden
     an Zunge und Mundschleimhaut«. Aber die Tumormarker sanken. Das war der Tauschhandel, den viele Krebskranke nicht eingehen
     wollen und es trotzdem tun: Leben gegen Leiden. Denn man weiß ja nicht, wie lange es dauert, wie die Krankheitverläuft, wie sinnvoll Angst ist, wie wenig sinnvoll Angst ist, wie produktiv, wie lähmend.
    Meine Mutter jedenfalls hatte sich entschieden. Stagnation war das, was sie nie gewollt und auch nie geduldet hatte, also
     lebte sie nach vorne in diesen Jahren, der Krankheit entgegen, entweichend, sie ging den Krebs an, auf alle möglichen Arten.
     Am meisten, so scheint es mir, hat ihr die Visualisierung geholfen, eine Art Krebstherapie mit eigenen Bildern, sie hat davon
     viel erzählt, wie sie ihren Körper stundenlang durchsuchte, wie sie die Augen schloss und sich konzentrierte und sich vorstellte,
     dass die Krebszellen, die sich in den

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