Der Tod meiner Mutter
Lymphknoten festgesetzt hatten, rot waren und mit dem bösen Blick versehen und dass
sie giftige grüne Fische auf sie hetzte, mit großem Gebiss, die sie jagten, die sie zerfetzten, es war ein Kampf, das wusste
sie, sie hatte ihn angenommen, und ohne Schaden geht das eben nicht ab.
Würde ich das auch so gut aushalten? Würde ich zwölf Jahre kämpfen wie sie? Würde ich nach vorne schauen? Würde ich jammern?
Würde sich das Gift der Krankheit in meine Ehe, in meine Freundschaften, in mein Leben fressen?
Ich war von Krankheit umgeben, aber spürte davon wenig. Mein Vater hat viele Jahre schon Diabetes und Parkinson, 2001 lag
er nach einem Herzinfarkt sechs Tage lang im Koma, ich fuhr die Nacht hindurch aus Berlin nach München, ich saß an seinem
Bett und las ihm eine Geschichte vor, die ich geschrieben hatte und die von einem jungen Mann handelte, der sich nicht entscheiden
kann, ob er sein Leben lebt oder das Leben ihn. Ich sagte ihm, dass ich ihn brauche und dass ich ihn liebe, was ich ihm noch
nie gesagt hatte, und er kam zurück.
Meine Mutter hielt ihre Krankheit immer von mir fern, so sehr, dass wir mit den Jahren fast eine gewisse Routine entwickelten.
»Ruf doch mal den Arzt an und erkundige dich, wie es ihr wirklich geht«, sagte meine Frau oft. Ich ließ meine Mutter in diesen
Jahren allein mit dem Krebs.
»26. 1. 2001 Sonografie, CT Thorax und Leber«.
»4. 7. 2001 Mammografie«.
»24. 5. 2002 Ganzkörper-CT«.
Im August oder September 2002 notierte sie: »Verdickung eines Knotens über der Schilddrüse, Schluckbeschwerden«. Am 19. September
ergab eine Sonografie »pathologischen Befund«, am 24. September war sie bei Doktor Knoll in der Chirurgischen Privatklinik
Bogenhausen, zur »Entfernung des Knotens, Schnellschnitt und Histologie«, danach ging sie ins Krankenhaus Rechtsder Isar zur »Bestimmung des Herceptinfaktors« – und dieses Wort prägte dann die nächsten Jahre, dieses Wort, Herceptin,
tauchte immer wieder auf, wenn sie doch einmal von ihrem Leben mit der Krankheit erzählte. Es war ein Krebsmittel, das wusste
ich. Es wurde wöchentlich in Infusionen verabreicht, das verstand ich, denn sie erzählte, wie sie in die Tagesklinik in der
Sonnenstraße ging und sich einen Walkman aufsetzte und die schönen, traurigen Lieder von Benjamin Biolay hörte und über Stunden
wartete, bis dieses bräunliche Zeug aus dem Tropf in ihren Körper geflossen war, sie erzählte, wie sie sich nach Hause schleppte
und zwei Tage lang müde war und wie ihr mit der Zeit die Adern wehtaten.
»Ab 10.2.2003 Behandlung mit Chemo (Navelbine) und Herceptin bis 6.4.2004. Absinken der Tumormarker auf 11/51«.
Sie hoffte, was blieb ihr auch übrig? Und immer war da die Frage: Wie geht es weiter? Und: Mache ich weiter? Und: Wann kann
ich nicht mehr? Wann will ich nicht mehr?
Ab 13. Juli 2004 war sie wieder bei der wöchentlichen Herceptin-Infusion. Und trotzdem: »11.1.2005 Anstieg der Tumormarker
auf 32/100«. Also wieder: »24.1.2005 CT Hals, Thorax, Leber (o.B.)«, danach Chemotherapie mit dem toxikologisch relativ milden
Medikament Navalbine, das den Haarausfall und die schwarzen Fingernägel und all die anderen erniedrigenden Begleiterscheinungen
vermeiden hilft. Am 13. Mai schrieb sie: »CT verdickte Lymphknoten Hals,Mediastinum/Knochenszinti: keine Metastasen«. Am 8. September war der Stand der Tumormarker bei 33/47.
Dann starb ihr Arzt Doktor Mair, der sie seit Jahren behandelt hatte, der »Onko-Mair«, wie sie ihn nannte, ein Praktiker,
so redete sie von ihm, jemand, der ihr mit seiner Art, seinem Wesen half, dass die Krankheit nicht übermächtig wurde in ihrem
Leben. Sie hatte immer viel in die Persönlichkeit ihrer Ärzte hineingelesen, ihm hatte sie vertraut, auf ihn hatte sie ihre
Hoffnungen gebaut. Sein Tod war nun ein Schock.
Krebs ist Vertrauenssache, könnte man sagen, vielleicht mehr noch als andere Krankheiten. Weil die Behandlungsmethoden so
unterschiedlich sind. Weil Arzt und Patient gemeinsam einen Weg finden müssen, der stimmt. Weil die Art, wie man dem Krebs
medizinisch begegnet, etwas darüber sagt, wie man dem Leben entgegentritt. Lange hieß es, Wilhelm Reich hatte das gesagt,
es gebe eine sogenannte Krebspersönlichkeit, also eine charakterliche Disposition, die mitverantwortlich ist für die Krankheit.
Dazu zählte man einen angepassten Lebensstil, die Tendenz zur Selbstaufopferung, schwaches Selbstbewusstsein, mangelndes
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