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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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eine intensive Schmerztherapie aus, auch wenn diese Medikation zur Bewusstseinseinschränkung oder zu meinem Tod führen
     sollte.« Alle drei Dokumente waren mit klarer, ruhiger Hand geschrieben, alle trugen das Datum 11. Juli 2004.
    Ich schob den Umschlag in das vordere Fach meiner Reisetasche. In Berlin holte ich den Umschlag heraus, legte ihn in eine
     Schublade und machte ihn erst wieder auf, lange nachdem meine Mutter tot war.

    Sie wollte, dass es ihr gut geht, es ging ihr aber nicht gut. Sie saß auf den drei Kissen, die sie sich auf den Liegestuhl
     gelegt hatte, sie rutschte etwas zur Seite, und alle paar Minuten seufzte sie und schob sich mit dem einen Arm etwas weg von
     der Lehne und versuchte, die Kissen wieder in die richtige Ordnung zu bringen, bis ich aufstand, um ihr zu helfen.
    Meine Frau saß ihr gegenüber, wir hatten ein Foto dabei von der Ultraschalluntersuchung, meine Mutter schaute es kürzer an,
     als ich gedacht hatte, sie hielt es aber noch in der Hand, als wir mit ihr sprachen, und für eine Weile schien vieles möglich.
     Man sah jetzt schon, dass meine Frau schwanger war, und meine Mutter schaute immer wieder auf diesen Bauch, sie lächelte und
     hob die Hand, als wollte sie den Bauch anfassen, dann ließ sie die Hand wieder sinken und fragte, ob wir noch ein Stück Kuchen
     haben wollten.
    Wir blieben eine Weile, und während wir da waren, dachte ich, wie schwierig es ist, und als wir gegangen waren, dachte ich,
     wie schön es war.
    Wir blieben eine Weile, und je länger wir da waren, desto mehr Kraft schien sie zu haben und desto müder schien sie zugleich
     zu werden.
    Sie war fast heiter an diesem Tag und ganz anders als sonst, wenn ich sie in dieser Zeit besuchte, als immer eine große Leere
     um sie war und es auch nichts half, dass ich bei ihr war. Wir redeten, damit nichts anderes den Raum einnahm, oder wir schwiegen
     einfach, was auch schön sein konnte.
    Ich holte ihr Wasser aus der Küche und stellte eine Flasche auf den Tisch im Wohnzimmer und eine Flasche auf den Tisch auf
     der Terrasse. Ich drehte die Markise herunter, damit uns die Sonne nicht so blendete. Das Gras im Garten wuchs und wuchs,
     die Rosen blühten und welkten. Einmal habe ich das Unkraut gerupft, meine Mutter saß auf der Terrasse und sagte mir in kurzenSätzen, wie ich es machen sollte, und so zog ich an den dünnen Ästen, die sich um die dickeren Äste der Büsche gewickelt
     hatten, und es machte Spaß. Wenn ich fest genug daran zog, so fest, dass ich Angst hatte, den Busch auszureißen, dann gaben
     sie irgendwann nach, und mit einem Zug und noch einem und einem dritten hatte ich das Ding in der Hand, eine kleine tödliche
     Schlingpflanze, und der Busch war wieder licht und schön und stark und konnte weitermachen, weiterleben, eine Weile noch.
    Sie hatte ihre Sonnenbrille auf und die schwarze Steppjacke an, manchmal schien es, als schliefe sie, dabei war sie nur weiter
     weg, als ich sehen konnte, und wenn sie wieder zurück war, war sie verwirrt, aber auch froh, dass ich bei ihr war, dass sie
     hier war. Wenn sie aufstand, schwankte sie ein wenig und machte dann vorsichtig einen Schritt nach dem anderen, an der Terrassentür
     hob sie den Fuß an, damit sie nicht stolperte, sie hielt ihn hoch in der Luft und blieb einen Augenblick so stehen, wie ein
     Vogel, wie eine Vorstellung, bevor sie den Fuß auf den Boden setzte, auf der anderen Seite, auf den Teppich, der beige war,
     eine Farbe, die keine ist.
    Meine Frau und ich besuchten sie am 2. Juli. Am 8. Juli schrieb meine Mutter in den Kalender: »3. Platz Weltmeister«, die
     Drei war kaum zu erkennen, das Wort »Platz« rutschte nach rechts oben, im »Weltmeister« klaffte eine große Lücke.
    Eine Woche nach der Fußball-WM war ich das nächste Mal bei ihr. Warm war es an diesem Tag oder kühl,ich ging durch den Garten oder klingelte an der Tür, sie saß auf der Terrasse oder lag im Bett, ihr Lächeln war müde oder
     schön, ihre Hand war feucht oder trocken, ihre Wangen waren blass oder klebrig, sie trug ihre Perücke oder nahm sie gerade
     ab oder hatte nur diese Haare, die nachgewachsen waren, die grauen Haare, wie ein kleines Kind, so weich, so wenig.

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    6
    Ich fühlte mich unwohl, ich fühlte mich in der Defensive, ich hatte dieses Treffen gewollt und war nicht sicher, warum ich
     so gereizt reagierte. »Aber deshalb sind wir doch alle heute hier«, sagte ich, »ich habe auch den Eindruck, dass sie nicht
     genügend versorgt

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