Der Tod meiner Mutter
Teller weg, die herumstanden, ich kontrollierte, ob noch
etwas Essen im Kühlschrank war, ich warf die braunen Bananen weg und schaute, ob die Milch schon abgelaufen war. Als könnte
ich dadurch etwas tun gegen den Krebs, als könnte ich dadurch etwas erfahren über den weiteren Verlauf der Krankheit.
Am 13. Juli war meine Mutter bei ihrem Krebsarzt, um ihr Blutbild zu besprechen. »Kurz drin«, notierte sie in ihrem Kalender,
mehr nicht. Die Frage war, wie lange sie warten musste, bis ihre Blutwerte wieder hoch genug waren, damit sie die Therapie
fortsetzen konnte. Die Frage war, wie lange sie die Therapie überhaupt noch machen konnte. Und was dann geschehen würde.
Aber das fragte ich sie nicht.
Ich weiß nur, wie sie schaute, als sie davon sprach.
Am 15. Juli saßen wir wieder auf der Terrasse, sie erzählte mit leisen Worten, wie sie sich vor ein paar Wochen mit einer
ihrer Freundinnen gestritten hatte, es ging um ein paar Töpfe, die sie aussortieren wollte, es waren Anfälle von Veränderungswut,
und die Freundin unterstützte sie nicht genug, sagte meine Mutter, die davon gekränkt war.
»Die denkt«, sagte sie und spuckte die Worte fast aus, »dass sich die Mühe nicht mehr lohnt.«
Es wurde jetzt immer schwieriger, den Grat zwischen Hilfe und Bevormundung zu gehen, ohne sie dabei auf die eine oder andere
Art zu verletzen. Der Alltag meiner Mutter war irgendwann nicht mehr der einer Kranken. Im Sommer war meine Mutter noch keine
Sterbende. Im Herbst schon.
Habe ich das gesehen?
Ja. Nein.
Wusste ich, wie lange es noch geht?
Ja. Nein.
Sollte ich ihr zeigen, sollte ich ihr sagen, was ich sah?
Ja. Nein.
Sie hatte allen Grund, empfindlich zu sein, wenn jemand zweifelte, ob sie es schaffen könnte. Sie wollte nicht wissen, ob
die Menschen sich fragten, wie lange sie noch durchhalten würde. Sie wurde wütend, wenn ihr jemand den Glauben nahm. Dieser
Glaube war alles, was ihr blieb.
Aber ihr Leben veränderte sich, so wie der Sommerdahinging. Es waren alles kleine Abschiede, und jedes Mal tat es weh, und jedes Mal akzeptierte sie ihren neuen Zustand
zögerlich.
Wie an dem Tag, als sie noch einmal ins Theater ging und sich nach einer Stunde durch die Sitzreihen zum Ausgang zwängen musste,
weil sie nicht die Kraft hatte, zu sitzen und zu schauen, und sie verstand, dass sie vom Theater, das sie zu lieben gelernt
hatte, keinen Trost mehr erwarten konnte.
Wie an dem Tag, an dem sie sich mit einer ihrer neuen Freundinnen stritt, so wie man sich mit Menschen streitet, die man erst
kurz kennt, weil sie einen besser verstehen und einem direkter sagen, was man nicht hören will. Es ging um ein Bild, das in
ihrem Schlafzimmer hing, ein Akt von Herbert Achternbusch, mit kräftigem Rot gemalt. Meine Mutter sah in dem Rot die Liebe,
sagte sie mir. Die Freundin sah in dem Rot den Tod.
Wie am 4. August, als sie mehr aufschrieb als sonst.
»HG hier
Eiswürfel machen
Langes Gespräch Bulitta + Ki
Vick hier + ganzer Tag draußen
8 Std durchgeschlafen
Preradovivic 2. Wo«
Eiswürfel machen.
Das war der Tag, an dem sie die Chemotherapie abbrach.
»Und dann war diese Stimme da, ein Mann, mitten in der Wohnung, und der fragte mich, ob alles in Ordnung ist.«
»Eine Stimme.«
»Ich glaube, sie kam aus dem Flur.«
»Wann war das?«
»Gestern.«
»Kanntest du die Stimme, hast du mit jemandem telefoniert?«
»Nein, nein. Die Stimme kam direkt aus der Wand.«
Durch das Fenster sah ich die Autos und auf der anderen Straßenseite ein Haus aus rotem Backstein, und die Backsteine schienen
sich zu bewegen, jeder einzeln. Ich saß in der Redaktion in Hamburg, sie saß auf der Terrasse in München.
»Aus der Wand?«
»Und dann hat der Mann mich nach dem Knopf gefragt.«
»Welcher Knopf?«
»Na, der Knopf. Er fragte, warum ich den Knopf gedrückt habe.«
»Ach, der Knopf.«
Warum es dauert, bis man sieht, was so nah ist?
Es war ihre eigene Idee gewesen, wir hatten schon darüber gesprochen. Mich beruhigte der Gedanke, dass sie sich ihren Alltag
selbst organisierte, ich glaubte lange, dass es so sein konnte und so weitergehen konnte. Sie hatte sich einen Hausarzt gesucht,
der sie in ihrer Wohnung besuchte. Sie hatte eine Frau gefunden, die siezum Arzt begleitete und danach noch für sie kochte, die Freundin einer Freundin, die ich an einem heißen Sommertag in einem
Café traf, um mich zu bedanken, und ich kann mich nur noch daran erinnern, wie freundlich diese Frau war
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