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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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wird, dass sie zu wenig isst, dass sie zu wenig trinkt, dass wir sie nicht zu lange allein in der Wohnung
     lassen können oder vielleicht gar nicht mehr. Ich will, dass wir uns absprechen, wer an welchem Tag bei ihr sein kann, wer
     ihr etwas zu essen bringen kann, wer darauf achten kann, dass sie das auch isst, wer auf sie aufpasst, dass sie nicht stürzt,
     wenn sie aus dem Bett will, wer ihr zur Toilette hilft, wer die Küche macht, wer einkauft. Und ich bin euch dankbar, dass
     ihr mithelfen wollt. Aber wichtig ist auch, dass wir bei all dem den Willen meiner Mutter respektieren. Sie will nicht so
     viele verschiedene Leute bei sich in der Wohnung haben, sie will sich nicht wie im Krankenhaus fühlen, sie will nicht, dass
     wir sie behandeln wie jemanden, der bald stirbt.«
    Ich hatte zu laut gesprochen und zu heftig. Im Raum war es dunkel und ruhig. Es war vor allem eine derFreundinnen meiner Mutter gewesen, die darauf drängte, dass wir mehr für sie machen sollten, und erst später erfuhr ich,
     dass sie selbst ein paar Monate zuvor wegen Krebs im Krankenhaus gewesen war. Je mehr sie an diesem Abend aber gesagt hatte,
     desto stärker wurde mein Widerstand, desto lauter wurden meine Zweifel, desto größer wurde meine Angst.
    Litt meine Mutter mehr, als ich sehen wollte? Fühlte sie sich einsam und verlassen? War sie in ihrer Angst, etwas von ihrer
     Freiheit aufzugeben, an den Rand ihrer Würde geraten? Musste ich ihren Willen ignorieren? Konnten wir sie überhaupt richtig
     versorgen, wenn wir das taten, was sie wollte? Hatte ich die Augen verschlossen, hatte ich zu lange gewartet? Hatte ich als
     Sohn versagt?
    Wir saßen um einen Tisch herum, auf dem in kleinen Schüsseln Vorspeisen standen, Pilze, Paprika, Oliven. Sechs Freundinnen
     meiner Mutter. Wir hatten ihr nicht gesagt, dass wir uns treffen würden. Hatten wir sie schon hintergangen?
    Das Problem war bislang gewesen, dass ich nicht wusste, wann der richtige Zeitpunkt war, etwas zu verändern; dass ich die
     Zeichen deuten musste, die sie gab, widersprüchlich, wie sie waren; dass ich immer nur reagieren konnte, damit sie sich nicht
     betrogen fühlte. Aber vielleicht war es so, wie es sein sollte. Ich musste jetzt die Entscheidungen treffen. Ich musste sagen,
     wann die Freiheit meiner Mutter eingeschränkt werden sollte.
    Es war Anfang November; es war noch ein Monat. Der Tod war uns immer einen Schritt voraus.

    Im letzten Sommer war der Tisch in ihrem Wohnzimmer der wichtigste Platz. Die Zettel, Stifte, Schalen, Blumenvasen, Zeitungen,
     Briefe, Prospekte, Teller und Gläser bildeten ein System, dessen Bedeutung nur sie kannte und das ich nur so verändern durfte,
     wie sie es wollte. Wenn ich die Zeitungen, die in der Sonne vergilbt waren, auf einen Stapel packen und ins Altpapier werfen
     wollte, sagte sie: »Was machst du da, lass die Zeitungen genau so dort liegen.« Wenn ich die Zeitungen vom Tisch auf einen
     der Stühle räumen wollte, sah sie mich an, als wollte ich ihr noch das letzte bisschen Würde rauben, das ihr geblieben war.
    Es waren Relikte alltäglicher Rituale. Sie hatte etwas an diese Dinge delegiert, sie fand in ihnen eine Sicherheit, die ihr
     sonst zu schwinden drohte. In der zerbrechlichen Welt, in der sie nun lebte, war jede Veränderung eine Bedrohung, die ihre
     Balance, ihre Energie, ihre Zuversicht gefährdete. Sie schaute jeden Tag von ihrem Stuhl aus auf ein Bild, das ein Freund
     in den siebziger Jahren gemalt hatte, eine Landschaft in Umbrien, Braun und Blau und Tupfer von Grün und Rot, Häuser und Himmel
     und Bäume, ein Bild in einem blauen Rahmen, von dem sich, das sagte sie mir traurig am Telefon, die Farbe löste. Ein Freund
     musste das Bild in die Werkstatt bringen, es dauerte zwei Wochen, bis der neue Rahmen fertig war, in dieser Zeit starrte sie
     den leeren Fleck ander Wand an, als wartete sie auf eine Antwort, die ihr niemand geben konnte.
    Meistens war in diesen Sommerwochen das Fenster im Wohnzimmer geöffnet und ein wenig von dem Blütenstaub, der aus dem Garten
     hereingetragen wurde, lag auf dem Tisch. Die Tür zur Küche war angelehnt, und obwohl das Fenster gekippt war und jeden Tag
     oder jeden zweiten Tag jemand kam, um aufzuräumen, roch es in der engen Küche, roch es faul, roch es nach den Bananen und
     Tomaten und Äpfeln, die dort zu lange lagen, roch es nach sommerlicher Trägheit, die mich unruhig machte und müde.
    Ich stand dort und wusch das Geschirr ab, ich räumte die Töpfe und

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