Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
Vom Netzwerk:
und dass sie Kleidung
     trug in verschiedenen Schattierungen von Hellblau.
    Meine Mutter hatte sich in ihrer Krankheit eingerichtet, und sie hatte auch dafür gesorgt, dass diese Notrufverbindung in
     ihrer Wohnung installiert wurde. Sie trug einen Knopf um den Hals, mit dem sie das Rote Kreuz alarmieren konnte, falls sie
     einmal stürzen sollte und nicht wieder aufstehen konnte. »Angeblich mit Notruf ausgelöst«, schrieb sie am Tag nach unserem
     Telefonat in ihren Kalender, wütend fast hatte sie einen Teil dieser Notiz wieder ausgestrichen, als seien die Worte schuld
     daran, dass sich nun auch die Technik gegen sie wandte, als könnte sie die Worte bestrafen, wenn schon nicht die Menschen.
     Selbst eine Hilfe konnte jetzt eine Bedrohung werden. Aus allen technischen Geräten konnten Geister werden, traten Gespenster,
     die sie jagten. Die flackerten und sie mit ihren Bildern, mit ihren Stimmen verfolgten. Die sich ihrem Willen widersetzten
     und sie nachts aus dem Bett holten.
    Der Fernseher zum Beispiel hatte ein eigenes Leben, mal ging er an, mal ging er aus, nachts um drei lief er plötzlich, ganz
     von selbst. Oder der Wecker, der blinkte und nicht aufhörte, sie wusste nicht, wie das passiert war und was das bedeutete,
     und sie erinnerte sich auch nicht daran, dass sie selbst den Stecker herausgezogenund wieder eingesteckt hatte und dass der Wecker deshalb blinkte. Oder das Telefon, das so viele Knöpfe hatte, dass es tatsächlich
     verwirrend war, und der grüne Knopf und der rote Knopf, »natürlich kann ich das unterscheiden«, sagte sie sauer ins Telefon,
     dann war die Verbindung weg, weil sie den falschen Knopf gedrückt hatte. Und mehr als eine Stunde lang hörte ich nur tuut-tuut-tuut,
     sie hatte sich, dachte ich, aufs Telefon gelegt oder es war ihr runtergefallen oder es war etwas passiert und sie war allein
     und ich war nicht da.
    Einen Tag, nachdem der Notrufknopf sie so erschreckt hatte, saß meine Mutter um fünf Uhr früh auf der Terrasse, es war eine
     kühle Sommernacht und sie trug einen Bademantel aus Frottee. Es war eine Freundin von ihr, die sie dort entdeckte, sie hatte
     nicht schlafen können und an meine Mutter gedacht und war aufgestanden und die wenigen hundert Meter bis zu ihrer Wohnung
     gegangen, und da saß sie und schaute sie an mit Augen, aus denen vieles von dem Verständnis gewichen war, das zum Leben gehört.
     Der Fernseher lief in der Wohnung, es lagen Videokassetten und CDs und Bücher verstreut auf dem Boden herum, in allen Zimmern
     war das Licht an – und meine Mutter wunderte sich darüber, dass ihre Freundin so erschreckt wirkte, sie wunderte sich über
     ihre Panik.
    Die Freundin brachte sie ins Bett, und als sie um drei Uhr nachmittags wiederkam, da war meine Mutter klar und entschieden,
     sie wirkte wie befreit, sie sagte, es wäre doch schön, das alles endlich loslassen zu können, dasalles hinter sich lassen zu können, sich von allem zu lösen, letztlich auch vom Leben. In ihren Kalender schrieb sie: »schönster
     Tag«, in einer wackeligen Schrift; als ich den Kalender sehr viel später aus einem Karton holte und durchblätterte, konnte
     ich das erste Wort nicht lesen und dachte, sie habe dort geschrieben: »schwächster Tag«.

    Manchmal war es nur ein Satz, manchmal war es nur ein Blick, nur der Tonfall, die Art, wie sie sagte: »Ach, die!« Oder: »Mit
     denen kann man darüber eh nicht reden.« Oder: »Die haben ihre eigenen Probleme.«
    Es war in diesen Tagen eine Rohheit an ihr, die mit der Angst kam; es war eine Einsamkeit, die mit der Krankheit kam; es war
     eine Hochmütigkeit, die mit der Schwäche kam. Fast könnte man sagen, dass etwas wie Verachtung aus ihr sprach, die Verachtung
     der Sterbenden. Sie war grausam in manchen Momenten, weil sie keine Kraft hatte, zart zu sein, weich zu sein, jemand anderes
     zu sein als sie selbst. Und weil sie nicht verletzlich sein konnte, verletzte sie.
    Da saß sie auf der Terrasse in ihrem Lehnstuhl aus braunem Holz, sie schaute in den Garten und schaute in die Welt, es gab
     kleine Gräser und größere Gräser, es gab Büsche und Würmer, und je länger sie dort thronte auf den Kissen, die doch zeigten,
     wie krank sie war, desto unerbittlicher wurde ihr Blick.
    »Sentimentaler Quark«, sagte sie, wenn wir über Menschen sprachen, die wir beide kannten, und ich zuerklären versuchte, warum die einen immer noch ein Paar waren und die anderen nicht mehr. »Küchenpsychologie.«
    Es war fast, als

Weitere Kostenlose Bücher