Der Tod meiner Mutter
wollte sie sich mit diesen Worten etwas beweisen, als könnten diese Worte etwas ändern. Lange Zeit schien
sie zu glauben, dass ihre geistige Stärke, ihre Schärfe etwas an ihrem körperlichen Zustand, dem Verfall, verändern könnte.
Als auch ihr Geist sie betrog, wurde es mit der Hoffnung immer schwieriger.
Anfang August machte sie sich eine Weile keine Notizen mehr, nicht an meinem Geburtstag, an dem ich nach Salzburg fuhr und
Mozart hörte und nicht bei ihr in München war, und auch nicht an den Tagen, die folgten. Es ist eine Stille, die aus dem Kalender
dringt, die unheimlich ist, heute und jetzt, und die es damals schon war. Etwas verschob sich tief in ihr und trat danach
stärker aus ihrer Person hervor, etwas, das immer ein Teil von ihr gewesen war, nur war es diesmal klarer und damit direkter,
weniger abgefedert, weniger durch die Konventionen des Lebens flankiert.
Sie hatte schon früher eine Distanz gespürt, die andere zu ihr hielten, als es ihr schlechter ging, als die Krankheit nicht
mehr so leicht zu verstecken war. Nun reagierte sie selbst mit Distanz, sie baute einen Fangzaun um sich, der sie vor dem
schützen sollte, was anderen ihr Leben brachte. Diese Distanz war eine Prüfung, als wollte sie sehen, ob die Freunde einen
Weg finden würden, der zu ihr führte, ohne dass sie meine Mutter mit ihren eigenen Ängsten, mit zu vielen Fragen bedrängten.
Die meistenihrer engen Freunde waren Frauen, aber es gelang ausgerechnet einem Mann am besten, diese Distanz zu überwinden, der Mann
einer sehr alten Freundin meiner Mutter. Er zeigte ihr eine freundliche Gelassenheit, die ihr guttat. Er besorgte ihr einen
kleineren Kühlschrank für die Küche, den er auf einen Hocker stellte, damit meine Mutter sich nicht mehr bücken musste. Er
kaufte für sie ein und begleitete sie wie selbstverständlich auf die Toilette.
»Sag mal«, fragte sie ihn, als sie an einem Tag im Herbst auf dem Klo kauerte, »wir hatten früher nie was miteinander, oder?«
»Nein«, sagte er, »nicht dass ich wüsste.«
»Da bin ich aber froh.«
Es war ein Mann, der ihr in dieser Zeit nahe kam, und es war die Sexualität, in der sie immer noch einen Schlüssel suchte.
Meine Mutter blieb auch darin widersprüchlich. Sie verband Sex mit Befreiung, sprach aber mit mir nie darüber. Sie ließ Schuld
und schlechtes Gewissen und ihre Ehe hinter sich, führte aber ein Liebesleben, das sie verstecken musste. Und als das Sterben
eine Realität wurde, wurde der Sex wieder zu einem Rätsel, zu etwas, von dem man spricht, um es zu verstehen. Mit meiner Frau
telefonierte sie in dieser Zeit einmal sehr lang, was sonst kaum vorkam, sie erzählte ihr von ihren Männern, und es war fast,
als wollte sie mit dieser fordernden Nähe eine Grenze überwinden, die sie selbst errichtet hatte.
Denn es blieb die Stille.
Meine Mutter nahm dieses Schweigen, das sie aus ihrer Familie mitgenommen hatte und aus der Nachkriegszeit, nahm es wie ein
Tuch, sie zerriss es, vor den Augen der anderen, sie zerriss es auch im Leben der anderen, sie forderte sie auf, das Gleiche
zu tun, das Schweigen in ihrem Leben zu verlassen, die Lüge zu verlassen – und gleichzeitig nahm sie ihr eigenes Schweigen
und wickelte sich darin ein, als glaubte sie, sie könne sich so warm halten.
Es war ein Nachmittag, und eigentlich sollte ich gar nicht da sein. Ich sollte bei meinem Vater sein, es war schließlich Mittwoch,
und mittwochs war ich immer bei meinem Vater. Aber ich hatte etwas vergessen, die Fußballschuhe für das Training am nächsten
Tag. Ich ging also nach dem Mittagessen noch einmal in die Wohnung meiner Mutter. In fünf Minuten war ich da.
Wir wohnten im achten Stock, mit zwei Katzen und in zwei Zimmern. Erst vor ein paar Monaten hatte meine Mutter sich in das
große Zimmer ein kleines Zimmer bauen lassen, ein Mann mit sehr langen geflochtenen Haaren war zu uns gekommen und hatte sehr
viel Holz mitgebracht und einen elektrischen Schraubenzieher und seine Musik, die er die ganze Zeit über hörte, »You can get
it if you really want«, sang der Sänger, es klang nach Sonne, und ich schaute dem Mann dabei zu, wie er eine Schraube nach
der anderen in das Holz bohrte. Das Zimmer, das er baute, war gerade groß genug für das Bett meiner Mutter und ein schmales
Regal. Es hatteeine Schiebetür, und auf dem Bett lag eine rote Decke mit großen, silbernen Kreisen drauf.
Ich war fast nie in diesem Zimmer. Und ich
Weitere Kostenlose Bücher