Der Tod Verhandelt Nicht
erfahren können. Der Arbeiter mit Hauptschulabschluss hatte plötzlich einen Sohn mit Universitätsdiplom. Er wäre stolz aufmich gewesen, so viel ist sicher. Und glücklich. Aber das Schicksal kann manchmal wirklich gemein sein und hinterlässt uns nicht mehr als ein paar vergilbte Fotos und die Kosten für die Beerdigung. Mir hatte es obendrein noch eine Wohnung in der Via del Colle beschert, die Frucht der spärlichen Rücklagen zweier arbeitsreicher Leben, in die meine Mutter, mein Vater und Opa Baciccia gezogen waren, nachdem die winzige Wohnung, in der ich zur Welt gekommen war, den Zeitläuften zum Opfer gefallen war. Ich war in der Via dei Servi geboren, einer Straße, die es längst nicht mehr gab, in einem alten Wohnkomplex, an den ich mich nicht mehr erinnerte. Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, stand die Wohnung leer, und ich zog mit Clara ein. Auf demselben Fußboden hatten also erst ich und dann meine Tochter das Laufen gelernt.
Der Hund strich immer noch um mich herum, als ich auf einmal hörte, wie jemand mich von Weitem rief. Ich drehte mich um.
Aus der Düne, von der Virgilio herabstieg, blitzten die violetten Blüten der stachligen Stranddistel hervor. Er kam nur mühsam vom Fleck, trug noch immer den Overall und den obligatorischen kalten Zigarillo im Mundwinkel. Bei mir angekommen, hockte er sich neben mich und strich sich mit seinen kurzen Fingern über den ungepflegten weißen Bart.
»An der Sache ist was faul«, begann er.
»Was wollte Ganci von dir?«
»Er hat mich gebeten, bei ihm
scimenellongiu
zu machen. Genau deswegen glaube ich auch, dass da was im Busch ist.«
»Was ist
scimenellongiu
?«
»Ich soll seine Cannonau-Weinstöcke beschneiden, an der Schotterstraße zwischen Barisoni und Porto Santoru. Er sagt, dass seine Bauern dazu nicht taugen. Die Rebsorte bringt ausgezeichnete Trauben hervor und muss mit dem gebührenden Respekt behandelt werden. Dann hat er eine Flasche aufgemacht und mir einen Rotwein zu kosten gegeben, vollmundig wie ein Barolo. Ein acht Jahre alter Wein, den der Vorbesitzer des Landguts gemacht hat. Ein Elysier.«
»Ihr habt euch also verbrüdert.«
»Ich glaube nicht, dass seine Männer schlechte Weinbauern sind, hab ich ihm gesagt. Und dass mir sein Ansinnen nach so vielen Jahren etwas merkwürdig vorkommt. Daraufhin hat er seine Frau gerufen und in ihrem Beisein vom Stapel gelassen, dass wertvolle Dinge mit Sorgfalt behandelt werden müssen. Dann hat er noch mal betont, dass er seinen Männern nicht traut.«
»Und sie?«
»Sie hat mich nur mitleidig angesehen.«
»Zahlt er denn gut?«
»Er hat mir vorgeschlagen, dass wir uns die Ernte teilen.«
»Das scheint eine Marotte von ihm zu sein: Er macht bei allem halbe-halbe. Ist er denn wirklich so krank, wie alle behaupten?«
»So wie heute habe ich ihn noch nie gesehen. Als ob er schlagartig um zwanzig Jahre gealtert wäre.«
Virgilio kniff die Augen zusammen und schaute zum Horizont, dorthin, wo man sich eine Antwort auf dieschwierigsten Fragen erhoffte, die man jedoch nie bekam.
Auf einmal riss uns ein lauter Pfiff aus unsrer Versunkenheit. Der Junge hatte sich erhoben und ging mit seinem Hund in Richtung Flussmündung davon. Ich sah ihnen nach, und als würden sie es spüren, drehten sich die beiden noch einmal um und warfen mir einen langen Blick zu. Der des Hundes war traurig und neugierig, der des Jungen misstrauisch und fast feindselig.
Nach ein paar Minuten erhob sich auch Virgilio, und ich sammelte meine Sachen zusammen. Wir wollten gerade gehen, als mich die Neugier packte: Ich wollte sehen, was der Junge gebaut hatte.
Wie vom Schlag getroffen drehten wir uns zwei Minuten später nach dem Jungen und seinem Hund um, aber von den beiden war nichts mehr zu sehen. Der Junge hatte aus Sand drei Berggipfel gebaut und in den mittleren einen Holzstock gebohrt. Am Fuße der Sandhügel hatte er mit dem Finger ein paar Buchstaben in den Sand geschrieben:
ER IST HIER.
Schüsse in der Nacht
»Ja?«
»Ciao, Clara. Hier ist Bacci.«
Es war Punkt acht. Die Luft war klar und angefüllt von sämtlichen Aromen des Landes. Die Abendbrisewehte den Schwefelduft der Cannonau-Weinberge zu mir herüber. Ich saß auf den Stufen der Veranda, hielt das Handy ans Ohr gepresst und betrachtete die Baumreihen, die sich mit ihren Wurzeln in der ausgedörrten, salzigen Erde verbissen hatten.
»Was willst du?«
»Ich möchte Aglaja sprechen. Wir hatten uns für acht verabredet.«
»Aglaja ist nicht
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