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Der Tod Verhandelt Nicht

Der Tod Verhandelt Nicht

Titel: Der Tod Verhandelt Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
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immer noch frei genug, einfach alles hinzuwerfen. Und dann meinte sie noch, dass Töten zum Leben dazugehöre. Man müsse bloß beschließen, es zu tun.«
    Virgilio pfiff durch die Zähne, ohne weiteren Kommentar. Unvermittelt stand er auf. »Bin gleich zurück.«
    Sein Pick-up wirbelte eine riesige Staubwolke auf, als er mit quietschenden Reifen davonfuhr. Ich rauchte meine Pfeife zu Ende und ging ins Haus, um den Abwasch zu machen, was schnell erledigt war.
    Es war noch immer ein wunderschöner Tag, daher nahm ich mein Handtuch und ging wieder zum Strand hinunter, unter dem Arm ›Der große Gatsby‹ von F. Scott Fitzgerald. Es war wohl das dritte Mal, dass ich es las. So machte ich das fast immer. Ich las im Wechsel jeweils ein neues Buch und eines, das ich schon kannte. Im Gefängnis hatte ich viel Zeit zum Lesen gehabt, was mir dabei geholfen hatte, nicht zu viel nachzudenken. In jenen fünf Jahren hatte ich mehr Bücher verschlungen als in den folgenden zwanzig. Trotzdem wollte ich immer wissen, was für einen Geschmack bestimmte Bücher hatten, wenn man sie als freier Mann genoss. So, als ob das erneute Lesen die einzige Möglichkeit wäre, mir etwas zurückzuholen, was mir gestohlen worden war. Bücher sind wie Menschen: Sie ändern sich, je nach der Situation, in der man ihnen begegnet. Aber wer kann schon sagen, ob tatsächlich sie es sind, die sich wandeln, oder ob man nicht vielleicht selbst inzwischen ein anderer geworden ist …
    In Gedanken versunken zog ich mein T-Shirt aus,legte mich auf das Handtuch und schlug das Buch auf. Ein paar vereinzelte Badegäste hatten sich an dem weitläufigen Strand unter ihren Sonnenschirmen eingerichtet. Die Wellen rauschten an den Strand, und dieser Rhythmus gab mir ein Gefühl des Friedens. Er war fast wie ein Wiegenlied. Ich glitt in einen leichten Schlaf, eins dieser Nickerchen, die einen mit der Welt aussöhnen, die alte Wunden heilen und angestaute Wut verrauchen lassen.
    Als ich aufwachte, stand die Sonne immer noch hoch über den Bergen hinter Sarrala. Der Strand war jetzt etwas belebter. Es waren offensichtlich alles Sarden, die zu einer ersten Begegnung mit dem sommerlichen Meer aus dem Dorf heruntergekommen waren.
    Ich fragte mich gerade, welchen Wochentag wir eigentlich hatten, als ich einen Hund bemerkte, der um mich herumscharwenzelte. Eine Promenadenmischung, klapperdürr, mit raspelkurzen Haaren und Schlappohren, vermutlich einer der Hütehunde, die die Herden bewachten. Sein bunt geflecktes Fell war rötlich braun und auf dem Rücken fast schwarz, zum Bauch hin wurde es allmählich heller, und an den Pfoten und um die Schnauze herum war es fast weiß. Der Hund lief leichtfüßig über den Strand, drehte mehrere große Runden, immer mit der Schnauze dicht über dem Boden, und von Zeit zu Zeit kam er bei mir vorbei und schnüffelte an mir herum – ohne jegliche Scheu.
    Nicht weit entfernt von mir hockte ein etwa zehnjähriger Junge in schwarzem T-Shirt und kurzen Hosen in einer undefinierbaren Farbe. Er wirkte ganz versunken in sein Spiel im Sand, und die Wellen umspültenseine nackten Füße. Er hatte dunkle Haut und pechschwarzes Haar, das in der Sonne glänzte. Auch er war mager. Wie der Hund. Ich schaute auf die Uhr: halb fünf. Ich hatte fast zwei Stunden geschlafen. ›Der große Gatsby‹ schmachtete in der Sonne und war nach einem fulminanten Einstieg durch mein Schläfchen in den Anfängen stecken geblieben.
     
    In jungen Jahren gab mir mein Vater einmal einen Rat, der mir seitdem wieder und wieder durch den Kopf gegangen ist. »Bedenke«, sagte er, »wenn du an jemand etwas auszusetzen hast, dass die meisten Menschen es im Leben nicht so leicht gehabt haben wie du.«
     
    Ein Satz, den mein Vater nicht im Traum ausgesprochen hätte. Einerseits, weil er sich nie zu denen gehörig gefühlt hatte, die vom Schicksal besonders begünstigt worden waren, und wohl davon ausging, dass es seinem Sohn nicht anders ergehen würde. Andererseits, weil sein Klassenbewusstsein ihn zu der Überzeugung gebracht hatte, dass unser proletarisches Dasein keineswegs so etwas wie die Krätze war, die jeder für sich allein wegjucken musste, sondern vielmehr eine Chance, die uns die Geschichte eingeräumt hatte. Dagegen hätte ich durchaus etwas einzuwenden gehabt, wenn das Leben mir die Zeit dazu gelassen hätte.
    Aber dem war leider nicht so, denn er war gestorben, bevor er von dem kleinen Vorteil, den sein Sohn sich im Gefängnis erarbeitet hatte, hätte

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