Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
atmen.
Der matschige Sand quetscht sich durch die Zehen, der Wind bläst seine raue Kraft durch meine Haare und Muschelstücke pieksen mir in die Fußsohlen.
Ich spüre nichts.
Mit einer Hand beschatte ich die Augen und blicke, wohl zum hundertsten Mal, über die glattpolierte Oberfläche aus dunkelblauem Meer.
Plötzlich glitzert etwas im Wasser, es kommt direkt auf mich zu, dreht sich mehrmals um die eigene Achse, schwappt auf und ab, auf und ab. Das Wasser möchte ich nicht gerne berühren, denn verdrängte Erinnerungen schlagen jetzt wild um sich, ich halte schützend die Arme vor das Gesicht, es nützt nichts.
Die grünen Fäden eines Fischernetzes umschlingen eine Plastikflasche mit verblasstem Etikett. Mit klopfendem Herzen befreie ich die Flasche aus dem Netz und ziehe eine Rolle Papier heraus, wische mir schnell die Hände an meiner Jeans ab und betrachte die leicht verschwommene Schrift, halte sie in den ersten Sonnenstrahl, der durch die Wolken sticht. Noch bevor ich das eine Wort ganz gelesen habe, höre ich einen grauenhaften Schrei.
Es ist mein eigener.
»Mörder«, steht in dicken Buchstaben auf dem Papier. »Luuukaaas«, brülle ich über das Wasser hinaus, aber der Wind trägt seinen Namen mit sich fort.
Ich hätte die Wahrheit so gerne verdrängt.
Endlich.
Endlich weiß ich, was zu tun ist.
Einsam schlenderte das Paar durch das Watt. Die Schuhe hatten sie ausgezogen und hielten sie in den Händen. Der Mann trug einen Rucksack auf dem Rücken und seine Frau ging mit verschränkten Armen neben ihm her.
Niemand sonst schien an diesem Tag am Strand zu sein, der Wind strich rau und kalt über den Sand. Graue Wolken formatierten sich zu einem dunklen Sturm, bliesen immer wieder Sandkörner, wie eine Warnung, in ihre Gesichter. Selbst die Möwen stemmten sich mutig gegen den Wind und glitten in Schräglage über den Strand.
Ab und zu blickte die Frau ängstlich zu ihrem Mann, hielt immer ein wenig Abstand, so als ob sie jederzeit das Weite suchen wollte.
Plötzlich blieben sie stehen, der Mann setzte den Rucksack in den Sand, zog eine eingerollte Picknickdecke hervor und versuchte sie auszubreiten. Er lachte auf, als der Wind immer wieder die Ecken der Decke hochfliegen ließ. Mit ihren Schuhen beschwerten sie die Enden und setzten sich schnell in die Mitte der Decke. Auf eine Seite der Decke legte er seinen Rucksack nieder, und sie zog eine Rotweinflasche daraus hervor. Mit einem Flaschenöffner entkorkte er die Flasche, während sie zwei Gläser aus dem Rucksack holte. Sie blickten, wie gebannt, über das tosende Wasser.
Noch war es weiter draußen, aber schon bald würde die Flut ihren Besitz zurückfordern. Sie stießen mit ihren Gläsern an, dann küsste der Mann seine Frau auf die Wange.
»Amrum hat sich nicht geändert, gestern hatten wir noch eine ruhige See und sieh sie dir jetzt an.«
»Als ob sie auf uns wütend wäre, finde ich.«
»Das ist die Natur«, sagte er jetzt genervt.
»Sie macht mir eben Angst.«
Er legte schützend einen Arm um sie, aber diese Geste ließ sie innerlich erstarren. Der Wind heulte nun über die Insel hinweg und fegte alles beiseite, was ihm nicht gefiel.
»Wusstest du, dass man die Nordsee auch den Blanken Hans nennt?«
»Nein, das wusste ich nicht«, er blickte sie überrascht an.
»Gestern hast du den ganzen Tag am Laptop gesessen, da bin ich mit dem Fahrrad nach Norddorf gefahren und habe mir ein Buch über die Insel gekauft. Blanker Hans oder Mordsee wird die stürmische Nordsee genannt, weil sie in den vergangenen Jahren zigtausenden von Menschen das Leben gekostet hat.« Sie krallte sich an ihrem Glas fest und nippte daran.
»Lisa, hör auf damit, bitte«, zornig stürzte er den Rest aus seinem Glas hinunter, stand auf und ging ein paar Schritte über den Sand. Er hob eine Muschel auf und warf sie mit aller Kraft weit ins Watt hinaus. Lisa blickte ihrem Mann hinterher und erschrak über seinen Ausbruch, sie musste vorsichtiger sein, durfte ihn nicht noch mehr reizen. Aber schließlich konnte sie auch nichts dafür, dass die Mordsee schon so vielen Menschen das Leben gekostet hatte.
Michael beobachtete, wie die Muschel auf dem Boden aufschlug. Noch nie hatte er etwas so sehr gewollt wie in diesem Moment, verdammt nochmal, er wollte, dass der Albtraum endgültig vorbei war.
»Wir sollten aufbrechen, die Flut kommt immer näher.«
»Lass uns noch die Gläser austrinken und dann zurückgehen«, sagte sie erleichtert und lächelte sogar
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