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Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)

Titel: Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordelia Borchardt und Andreas Hoh
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unerträgliche Spannung baute sich in seinem Schädel auf, durchzuckt von einem heftigen Impuls nach Entladung. Kaum fassbar, was die graue Masse hinter der Hirnrinde für einen Furor erzeugen konnte. Kaum größer als eine Grapefruit, nur etwa so schwer wie ein Kohlkopf, nahm das Gehirn die gefühlte Dimension eines Hochhauses an …
    Er starrte ungläubig in den Spiegel. War es jetzt schon so weit mit ihm? Spürte er die Vorboten eines Schlaganfalls?

    »Erasmus? Jetzt sag doch was!«
    Der verhaltene Vorwurf im Ton seiner Frau verstärkte den knisternden Schmerz in seinem Kopf. Er wusste: Jedes weitere Wort würde einen Kurzschluss auslösen. Wie würde sich das anfühlen? Die Stirn gegen den Spiegel gepresst, legte er die Finger zu beiden Seiten des Kopfes unter die Ohrläppchen. Eine Übung aus seinen Studienjahren in den USA , bei Ornstein und Thompson, die er bis heute gern mit seinen Studenten durchführte. In der Mitte des Zwischenraums, den die Hände bildeten, lag der älteste Teil des Gehirns, der Hirnstamm. Wurden jetzt die Hände zu Fäusten geballt, veranschaulichte jede Faust etwa die Größe einer Hirnhemisphäre. Legte man beide Fäuste an den Handballen zusammen, hatte man nicht nur die ungefähre Größe und Form des ganzen Gehirns vor Augen, sondern auch seinen symmetrischen Aufbau. An diesem Punkt pflegte er im kleinen Kreis dicke hellgraue Handschuhe zu verteilen; angezogen stellten sie den Cortex dar, die Großhirnrinde, deren Funktionen den spezifisch menschlichen Leistungen wie Sprache und Kunst zugrunde liegen und die jeden Moment von den Implosionen in seiner Zellstruktur –

    »Erasmus!«
    Ein hartes Klopfen an seiner Tür rief ihm die aktuelle Situation vor Augen. Seine Frau. Hinter der Tür. Voll zorniger Ungeduld.
    »So antworte mir doch! Ich komme jetzt rein und bring dir den hellgrauen Anzug. Du darfst dazu keinesfalls eine grüne Krawatte tragen.«
    Sein Knie knickte ein. Er sank auf die Fliesen und griff nach dem Rand der Wanne, gottfroh über den Einbau des zweiten Badezimmers …

    Die nächsten Tage verbrachte er nahezu reglos im Bett. Die Intensität dessen, was sich in seinem Kopf abspielte, zwang ihn – bis auf Entleerung und Nahrungsaufnahme, für die eine ambulante Pflegerin sorgte –, jede körperliche Aktivität zu vermeiden. Zum Glück war er noch rechtzeitig zu sich gekommen, um den Notarzt zu instruieren, den Irene – ihn bewusstlos auf den Fliesen vorfindend – eilends einbestellt hatte. Nachdem ein Schlaganfall ausgeschlossen werden konnte, einigten sich die Ärzte in der Stroke-Unit-Ambulanz auf ein Burn-Out-Syndrom – aber er wusste es besser.
    Medikamente und gute Ratschläge missachtend, setzte er durch, sich selbst zu kurieren, zu Hause, im eigenen Bett, wo er sich dem Feuerwerk hingab, das sein Denken zündete.
    Noch wagte er nicht, die Dinge beim Namen zu nennen, das Wissen um seine innersten Vorgänge zu konkretisieren, noch schreckte ihn die gigantische Dimension des Geschehens in seinen Hirnwindungen. Es gab täglich, stündlich und inzwischen minütlich Anzeichen für das Fortschreiten eines unbenennbaren, grandiosen Umbruchs. Die Anzeichen mehrten sich, potenzierten sich, der Vollendung eines Großen und Ganzen zuwachsend, eines All-Umfassenden, einem Quantensprung der Evolution. Er erschauerte.

    »Erasmus? Ist alles in Ordnung?«
    Irene war in den Schlafraum getreten, ein Tablett mit Früchten und Tee vor sich hertragend. Er wandte den Kopf ab, mit geschlossenen Augen. Noch war es zu früh für sein Vorhaben, noch galt es, die Sache mit dem Zitteraal gründlicher zu durchdenken.
    »Leck mich!«, zischte sie, tausend Impulse zündend. Sie selbst – ein böser Impuls. Störfaktor seines Lebens. Seine Ehe – eine Fehlschaltung. Eine Verbindung wie von Natrium und Chlor, geeignet, das Leben gründlich zu versalzen. Aber damit würde nun bald schon Schluss sein. Es machte nichts, dass seine Glieder gelähmt waren. Er brauchte nicht einmal den kleinen Finger zu rühren, er brauchte nur seinen Kopf zu schalten … Ein Zitteraal konnte einige hundert Volt erzeugen, die ausreichen, um einen Beutefisch zu töten, weil der Jäger spezialisierte Nervenzellen besitzt, die in genau dieser Weise hintereinander geschaltet sind. Er selbst, M., hatte in einem Zukunftslabor in Los Alamos eine Forschungsgruppe geleitet, die darauf abzielte, Nervenzellen hintereinander zu schalten – was natürlich nicht gelang. Aber wenn es gelungen wäre, hätten sie – trotz der

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