Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
Winzigkeit der Neuronen – damit so viel Spannung erzeugen können wie mit einer Taschenlampenbatterie.
Das alles lag weit zurück. Was waren die spezialisierten Zellen eines Zitteraals gegen die Komplexität seiner eigenen? M. blickte zur Decke und zog tief den Atem ein. Er wusste es: Wenn der Moment gekommen war, würde er kraft seines Geistes – allein kraft seines Geistes – die tödliche Spannung erzeugen können, die Irene zur Beute machte, sie ins Jenseits beförderte, mit einem Schlag, dessen nur er, er allein, mächtig war …
Er wusste es seit dem Augenblick, als ihm klar wurde, dass er einer Berufung nachzukommen hatte. Er war früh erwacht, in seinem anderen Leben, und hatte am Fenster gestanden, um die Morgendämmerung zu betrachten. Ein ungewöhnlich heller Planet, der noch am östlichen Horizont strahlte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Während er ihn staunend beobachtete, brach der obere Rand der Sonne über den Horizont und er sah, wie sich ein Strahl orangefarbenen Lichtes von der Sonne zu dem Planeten erstreckte. Der Planet verschwand und die Turmuhr schlug sechs. Dies war der Moment, als ihm klar wurde, dass er erwählt war.
Zugleich war ihm auch klar, dass die Welt voller Wissenschaftler war, die ihm seine Erkenntnis neiden und seinen Status leugnen würden, doch keiner – nicht einer von ihnen! – würde ihm etwas anhaben können. Es war dumm, dass Irene just in dem Moment eintrat, als er sich mittels zweier freiliegender Kabelenden Energie aus der Steckdose zuführen wollte.
»Erasmus! Was tust du da!?«, hatte sie aufgeschrien.
Sie begriff nichts. Sie hatte noch nie etwas begriffen. Deshalb hatte er es ihr sagen müssen.
»Lass mich – ich bin das Netz!«
Und er tat, was zu tun war.
Aus einem entlegenen Winkel des Gartens hörte er Irenes Stimme. Seit einiger Zeit war es ihm gegeben, das Chaos der Frequenzen, über die sein Kopf sich mit Informationen füllte, zu strukturieren, zu dekodieren und in Bruchteilen von Sekunden Signale herauszufiltern, die ihm dienlich waren. Dabei spürte er, wie sich das neuronale Netz in Windeseile verstärkte, vervielfältigte und verknüpfte, was ihn nicht wunderte, denn die etwa hundert Milliarden Neuronen im Gehirn eines Menschen implizierten eine gigantische Zahl möglicher Verbindungen zwischen den Zellen, größer als die Zahl aller Atome im Universum. Allein das erstaunliche Tempo, in dem sich die Vervielfältigung der Nervenzellen während der Entwicklung des Organismus aus der befruchteten Eizelle vollzog, grenzte an ein Wunder. Er gedachte der neun Monate, die er als Fötus für seine Entwicklung gebraucht hatte – ein Zeitraum, in dem pro Minute 250000 Nervenzellen entstanden und in ihrer Gesamtheit das Nervensystem bildeten. Und das war erst der Anfang …
Er wagte nicht auszudenken, welche Dimension sein Nervensystem inzwischen angenommen hatte. Der oft gebrauchte Vergleich des Gehirns mit einem Computer war ein Witz, denn bereits das Potential einer einzelnen Zelle stellte den Computer – wie alles von Menschenhand Geschaffene – gnadenlos in den Schatten. Bei etwa hundert Milliarden Nervenzellen im menschlichen Gehirn war die Zahl möglicher Verbindungen zwischen diesen Zellen größer als die Zahl aller Atome im Universum – und dennoch hatte es einer Offenbarung bedurft, diese gewaltige Dimension zu erkennen, in ihr zu dienen und zu herrschen, als der Eine, der Einzige, der Messias der Moderne, der erwählt wurde, zu verkünden: »Seht her – ich bin das Netz.«
Er spürte, wie das Universum in seinem Kopf ins Unermessliche wuchs. Zu ihm gelangten jetzt nicht nur die Kommunikationsströme von allen Kontinenten, er empfing auch Informationen aus Raumstationen. Von Vorfreude erfüllt wartete er auf die ersten Signale eines galaktischen Lebens, als Irenes Flüstern ihn störte. Ihre Stimme war leicht zu orten. Sie kam aus dem entlegenen Teil des Gartens, in dem sie sich seit geraumer Zeit aufhielt. In ihr heiseres Timbre mischte sich eine leise Männerstimme, die M. – still in seinem Bett liegend – als Organ eines jüngeren Kollegen erkannte, dem er vor kurzem sein wissenschaftliches Vermächtnis diktiert hatte – mit Brief und Siegel. Als Nächstes würde er einen Anwalt bestellen und sein Testament ändern lassen. Er würde eine Stiftung gründen, eine Netzstiftung, zugunsten der Hirnforschung. Zum Glück war sein Ehevertrag wasserdicht, und Irene würde die Quittung für drei Jahrzehnte freudloser Ehe erhalten.
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