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Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)

Titel: Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordelia Borchardt und Andreas Hoh
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Aufwachen, wie es seine Art war.

    »Schlafen Sie mit einer Aufgabe ein und wachen Sie mit ihr auf«, pflegte er seinen vorwiegend männlichen Studenten zu raten, »und überlassen Sie das Vögeln den Vögeln.«
    Wenn sich dann das Gelächter legte, schob er zum besseren Verständnis gern noch einen Vergleich mit dem Gesangszentrum des männlichen Kanarienvogels nach, das im Frühling auf das Doppelte seiner Größe wächst, wenn der Vogel den Gesang lernt, mit dem er das Weibchen lockt.
    »Aber«, legte M. der erheiternden Warnung nach, »sowie die Paarungszeit vorbei ist, schrumpft das Gesangszentrum, und das Männchen vergisst den Gesang. Was lernen wir daraus? Richtig! Erst lernen, dann locken. Wenn Sie vermeiden wollen, dass Ihr Gehirn schrumpft, vergessen Sie das mit den Weibchen – zumindest bis Sie die Promotion geschafft haben.«

    Er selbst war mit diesem Prinzip weit gekommen. Im Verbund mit dem exzellenten Ruf, den er als Neurophysiologe genoss, sorgten seine Späßchen und Anekdoten seit Jahrzehnten für volle Hörsäle und –
    Das Rauschen verstärkte sich. Er lauschte in sich hinein. Ein Tinnitus? Das wäre nichts Ungewöhnliches für einen gestressten Mann in den Fünfzigern. Besorgt tastete er nach seinen Ohrmuscheln, drückte abwechselnd einen Finger an die Gehörgänge. Nein, das hier war etwas anderes. Etwas, das sich weiter oben abspielte, unter der Schädeldecke, zwischen den Schläfenlappen, etwas, das die beunruhigende Vorstellung hervorrief, es könne anschwellen, sich ausweiten und –

    »Erasmus? Schläfst du noch? Du solltest schon längst –«
    Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, und griff nach den kleinen weißen Waffen, die seinen Hochdruck in Schach hielten. Mit zitternder Hand führte er das Glas Wasser zum Mund, das Irene ihm – wie stets vor dem Zubettgehen – zu den Tabletten auf den Nachtschrank gestellt hatte. Ein Ritual, das sie trotz der getrennten Schlafzimmer beibehielt, demonstrativ, zuverlässig und mit dem unausgesprochenen Zusatz:
Sieh her. So bin ich zu dir, obwohl du es nicht verdienst.
Seit seiner Einquartierung im Dachgeschoss hatte sich ihr Verhältnis gebessert. Die Auseinandersetzungen waren weniger geworden. Sie störten einander nicht mehr.

    Es war ihm lieb, dass sie nicht eintrat. Seit einiger Zeit bemühte sie sich erst nach dem zweiten Weckruf zu ihm hinauf, um ihm – je nach Wetterlage – frische Wäsche zu bringen, die sie auf einem Stuhl vor der Tür ablegte. Eine Absprache, die ihre Beziehung entlastete und ihn dennoch störte, weil sie ihn als Person in Frage stellte. Im Grunde war Kleidung ihm gleichgültig. Wichtig war, was sich in seinem Kopf abspielte …
    Ein leiser Schmerz bohrte sich in den Cortex. Er sah flimmernde Teilchen. Ein Universum von Schwarz tat sich auf, Myriaden von Funken sprühten vor seinen Augen.
    Er registrierte die Symptome, als fänden sie außerhalb seiner selbst statt. Eine Rebellion der Neurotransmitter? Kreuzfeuer der Vesikel? Crash der Axone? Stau auf den Dopaminbahnen? Inspiriert griff er nach dem Notizblock auf seinem Kopfkissen, um seine Eingebungen zu notieren (alles wunderbare Titel für neue Vorträge oder Publikationen!), doch das Papier entglitt ihm und seine Hand fiel schlaff in den Schoß …

    Nun gut, dann würde er diese Ideen diktieren. Es war wichtig, sie der Nachwelt zu erhalten; die moderne Wissenschaft bedurfte plakativer Beschreibungen, insbesondere wenn es sich um neuronale Prozesse handelte. Seit Jahrtausenden mühten sich die Menschen, das Gehirn zu verstehen – doch je mehr sie verstanden, desto mehr entzog es sich dem Verständnis. Die alten Griechen hatten es für eine Art Kühlaggregat zur Regelung der Bluttemperatur gehalten. Im letzten Jahrhundert verglich man es mit einer Schalttafel, einem Computer, einem Hologramm – und man würde es zweifellos noch mit vielen anderen Dingen vergleichen, die nach und nach noch erfunden werden. Er selbst forschte unentwegt nach neuen Erkenntnissen, wohl wissend, dass – selbst wenn man alle Informationen der Evolutionstheorie, der Neuroanatomie und der Neurophysiologie zusammennähme – das Gehirn ein Rätsel seiner selbst bleiben würde.
    In seinem Kopf tobten Gewitter. Nur mit Anstrengung gelangte er ins Bad. Er fürchtete den Blick in den Spiegel, gewärtig, in eine verzerrte Fratze zu blicken. Doch sein Anblick war unverändert. Ein asketisches Männergesicht mit schlecht durchbluteter Haut und übermüdeten Augen. Eine fast

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