Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
verzweifelt auf den Boden.
Sechsundzwanzigster August.
Der Mann genoss die Geschäftigkeit des Kopenhagener Flughafens. Er beendete das Frühstück, das er in einem der Lokale eingenommen hatte, und machte sich auf den Weg zu den Schließfächern. Er stellte den Koffer ab, griff in seinen Mantel. Nacheinander verschwanden die Pistole, sorgfältig in Papier eingeschlagen, das Dossier, das Photo von Michael Rosendahl in dem Schließfach, so wie er sie Tage zuvor einem ähnlichen Fach entnommen hatte. Dafür zog er einen weiteren braunen Umschlag aus dem Fach. Ein neues Dossier. Tickets. Ein neuer Pass. Julian Douglas würde an diesem Tag tatsächlich nach London zurückkehren, auch wenn er dort angekommen längst einen anderen Namen angenommen hätte.
Astrid Theuer Carpe Diem
Carpe Diem! Ich weiß genau, es sind diese beiden Worte, die deine Aufmerksamkeit auf meine Geschichte in dieser Anthologie gelenkt haben. Natürlich wunderst du dich, dass ich ausgerechnet auf diesem Weg Kontakt zu dir aufnehme, doch sobald du das Nachfolgende gelesen hast, wirst du meine Beweggründe verstehen können.
Vermutlich zerbrichst du dir gerade den Kopf, wie ich ahnen konnte, dass du meine Zeilen lesen würdest? Nun, ich weiß mehr über dich als der Papst über den Vatikan. All deine Gewohnheiten und Vorlieben bis hin zu den allerkleinsten schmutzigen Geheimnissen sind mir bekannt. Mit diesem Wissen konnte ich dich Schachmatt setzen und Vergeltung für deine Missetat nehmen. Aber ich will das Ende nicht vorwegnehmen, sondern alles der Reihe nach erzählen:
Wie schon erwähnt, bin ich über dein Leben so gut informiert wie ein Auftragskiller, der sein Opfer sorgfältig studiert hat, doch vielleicht überrascht es dich, dass du mich ebenfalls kennst! Wir beide haben uns schon einmal gesehen, miteinander geredet, gelacht und waren bereits sehr intim miteinander, selbst wenn du andere Worte dafür gebrauchen würdest. Weißt du nun, wer ich bin?
Nein? Waren es zu viele? Dann muss ich noch genauer werden:
Es war vor ein paar Jahren. Im Internet. Dort haben wir uns das erste Mal persönlich getroffen, falls man in einer solchen Situation überhaupt von einem Treffen sprechen kann. Es passierte in einem dieser philosophischen Foren, in denen man sich gegenseitig seine auf Halbwissen gegründete Meinung über Hume, Hegel und Kierkegaard mit größtmöglicher Eloquenz entgegenschmetterte.
Frischgebackene Studenten dachten in postpubertärer Selbstüberschätzung, sie wären die kommenden Plancks, Kissingers oder Sartres, und aufgrund dessen erwarteten sie einen gewissen Respektsvorschuss von den altgedienten Meistern des Forums.
Inmitten dieser balzenden Horde warst du für uns alle mit deinen reifen Bemerkungen, deinen pointierten Repliken und selbstsicheren Erklärungen der Fels in der Brandung. Als du anfingst, meinen Texten deine Aufmerksamkeit zu widmen, platzte ich vor Stolz. Bei jedem Zuspruch, jedem lobenden Zitat jauchzte ich vor Freude und war bei jeder kritischen Bemerkung zu Tode betrübt.
Während meiner Schulzeit war ich immer nur Mittelmaß gewesen, der langweilige Durchschnitt. Wie konnte ich da nicht von der Annerkennung fasziniert sein, die ich ausgerechnet von dir, dem Vorzeige-Philosophen des Forums, erfuhr? Damals begriff ich noch nicht, dass du mich nicht wegen meines Intellektes beachtet hast, sondern ganz lapidar wegen des Venussymbols vor meinem Nicknamen.
Als du nach Monaten des Kommentierens, Kritisierens und Redigierens ein Treffen in meiner Stadt vorschlugst, war mein anfängliches Zögern nur noch reine Formsache für dich und deine Überredungskünste.
Wir trafen uns schließlich in einem netten, kleinen Lokal, das ich vorher sorgfältig ausgesucht hatte. Rückblickend kann ich kaum mehr nachvollziehen, wie viele Stunden ich mit der Recherche von Stadtführern und Lokaltipps verbracht hatte, nur um ein Künstlercafé zu finden, welches deinen Ansprüchen genügen sollte. Aber ich wurde fündig und belohnt, denn bei unserer einzigen realen Begegnung war das Ambiente perfekt: Geistreiche Gemälde schmückten die Wände, Dichter und Denker bevölkerten den Raum und ein Jazztrio spielte Duke Ellington, während ich an deinen Lippen hing wie ein Affenbaby an seiner Mutter.
Nach vier Margaritas mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen ging deine Rechnung auf. Mein
Über-Ich
war im Alkohol ertränkt, mein
Es
diktierte seine Bedürfnisse und mein
Ich
folgte dir willenlos aufs Hotelzimmer.
Ich will
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