Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
überstieg Arnes Verständnis. Seine Kindheit war nicht besonders schlecht gewesen, so durchschnittlich wie der Rest seines Lebens, doch irgendetwas hatte immer gefehlt. Er hatte es geschafft, die Schule abzuschließen, hatte zu studieren begonnen, aber der kalte Hass in seinem Bauch hatte sich immer tiefer gefressen, wurde unerträglich. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange er den Zorn ohne Hilfe hätte im Zaum halten können. Aber der Meister hatte alles geändert. Es war eine Montagnacht gewesen. Ein Abend wie viele zuvor, in dem er sich in die Arme eines Online-Videospieles geflüchtet hatte. Je älter die Nacht wurde, um so mehr der Kameraden seiner Spieler-Gilde waren ›offline‹ gegangen, hatten sich aus dem Spiel ausgeloggt, um zu Bett zu gehen. Irgendwann, gegen zwei oder drei Uhr in der Frühe, waren nur Arne und der Gründer der Gilde, der Gildenmeister, übriggeblieben. Arne war sich längst nicht sicher, warum er sich einem beinahe völlig Fremden geöffnet hatte. Doch entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte er an diesem Abend einen Gefährten und Lehrmeister gefunden. Sie kommunizierten lediglich über die im Spiel integrierte Post, und doch konnte Arne in all dem, was seither passiert war, die Hand des Meisters spüren. Er hatte keine Vorstellung, wer oder was für ein Mensch sein Gönner war, doch schien der über beträchtliche Mittel zu verfügen. Quellen, die es ihm erlaubten, Dinge zu erkennen, bevor sie geschahen. Er lieferte ihm nicht nur Namen, er lieferte ihm genaue Uhrzeiten, sogar die Position, an der er sich zu befinden hatte. Und natürlich hatte der Meister Arne auch die Ausrüstung verschafft. Seit jener Nacht fühlte Arne sich ganz. Glücklich. Etwa fünf Minuten später hielt der Zug an einer kleinen Bahnstation, nur zwei Bahnsteige, auf der einen Seite mit einer Grünfläche, auf der anderen eine graue Lärmschutzwand. Arne verließ den Zug, nahm die Treppen vom Bahnsteig hinunter und schwang sich nach einem verstohlenen Blick über die Schulter über den Zaun, der den Radweg von der ausgedehnten Rasenfläche trennte. In Deckung einer Hecke rannte er gebückt einen kleinen Hügel hinauf und glitt in ein Gehölz, hinter dem die Rückwand der ersten Lagerhalle in einer ganzen Reihe blecherner Bausünden begann. Der Ort war perfekt, natürlich war er das, wie jede Position, die der Meister ausgesucht hatte. Arne war bereits in der Nacht hier gewesen, hatte den Platz vorbereitet. Der tarnfarbene Sack lag noch immer unter dem Busch, wo Arne ihn verborgen hatte. Zuerst förderte er den Ghillie-Anzug zutage. Ein Überwurf, ein Netz, mit künstlichen Blättern und Zweigen bespannt, ein Anzug, wie militärische Scharfschützen ihn im Feld verwendeten, farblich an die dänische Flora angepasst. Das Gewehr, das er hervorzog und zusammensteckte, eine russische ›Dragunov‹, für mittlere Distanzen, war ebenfalls mit Blättern präpariert und in Tarnfarben lackiert; selbst das kurze, armdicke Rohr, das er auf den Lauf schraubte, um den Schall und das Mündungsfeuer zu unterdrücken, war auf ähnliche Weise bespannt. All diese Dinge, das Gewehr, der Anzug, waren Arne in einer versiegelten Ikea-Lieferung gesendet worden, verborgen zwischen den Einzelteilen eines Regals, das er auf Geheiß des Meisters bestellt hatte. Wie auch immer es dorthin gelangt war, es war nur ein weiterer Beweis, über welche Macht sein Meister gebot. Arne präparierte das Gewehr, brachte es in Position. Danach entfernte er das leere Magazin und griff in die Tasche seines Mantels. Er öffnete die rote Zigarettenpackung und zog eine von fünf länglichen Patronen hervor. Offensichtlich von Hand gefertigt, ein kurzes Stück Messingrohr, an beiden Enden mit Papier versiegelt, und schob sie ins Magazin. Er streckte sich auf dem Waldboden aus, entspannte sich, lud die Dragunov durch und betrachtete den Bahnsteig durch das Fernrohr. Es dauerte nur Minuten, bis der Zug eintraf. Und wie es der Meister vorhergesagt hatte, lehnte der Schaffner sich aus der offenen Tür, blickte nach rechts und nach links den Bahnsteig hinunter. Der Rückstoß traf Arnes Schulter wie ein Hammerschlag.
Dreiundzwanzigster August
Der Regen war gegen Abend abgeflaut, die Nacht brach herein. Das Restaurant des Prindsen-Hotels hatte nur einen einzigen Gast, am besten Tisch in der Ecke. Vor gut vier Wochen war dieses Restaurant mit Gästen des weltbekannten ›Roskilde Festivals‹ gefüllt gewesen, hatte die Stadt pulsiert vor Leben. In gewisser Weise
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