Der Tod wirft lange Schatten
kleines Mädchen war, nach dem Krieg verlassen hatten, um ihr Glück in Australien zu versuchen. Damals waren viele Triestiner, die keinen anderen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere der fünfziger Jahre sahen, in die Fremde gegangen. Auch wenn ihre Mutter schon bald in der italienischen Gemeinde den Mann kennenlernte, der später Mias Vater wurde, sprach man zu Hause kaum von den Gründen der Auswanderung, sondern pflegte verklärte Erinnerungen. Sie hatten mehr Glück als die anderen gehabt und waren bei Verwandten untergekommen, die bereits in der dritten Generation in Australien lebten und sich wirtschaftlich etabliert hatten. Doch als wäre es Teil des Erbguts, verspürte auch Mia eine ständige Sehnsucht nach Triest, als handelte es sich um ein mythenumwobenes Märchenschloß und nicht um eine Hafenstadt, die die besseren Zeiten längst hinter sich und eine ungewisse Zukunft vor sich hatte. Ihren Namen hatte Mia im Andenken an diesen Ort erhalten: »Trieste mia« hieß ein naives Volksliedchen, das man ihr als Kind immer wieder vorgesungen hatte.
Mia fühlte sich von der langen Reise zerschlagen, dennoch war sie aufgeregt, als der Pilot den Anflug auf den Triestiner Flughafen Ronchi dei Legionari ankündigte und das Flugzeug in der Abenddämmerung über der Lagune von Grado mit stark abgesenkter Tragfläche in die Landeschleife führte. Seit Wochen hatte sie sich auf diesen Moment gefreut. Einen Sommer allein in Triest! Ein zielloses Leben, ohne ihr vernachlässigtes Studium, das ihr schwer auf dem Gewissen lastete, und ohne die hartnäckigen Verehrer in Sydney, die sie unablässig bedrängten. Ausruhen, nachdenken und etwas Neues beginnen! Das Fest zu ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag war zugleich ihre Abschiedsparty gewesen.
»Drei Monate mindestens«, hatte sie gegen Mitternacht kichernd mit einem Glas Champagner in der Hand verkündet und dabei genau die Reaktionen der beiden Männer beobachtet, die seit Monaten um sie buhlten wie verliebte Kater im Mai. Mia wollte keine langen Diskussionen und erst recht keine Abschiedsszenen. Sie ärgerte sich, als sie sah, wie sich die beiden haßerfüllte Blicke zuwarfen, weil jeder dachte, der andere dürfe sie auf ihrer Reise begleiten. Sie hatten nichts verstanden. Am nächsten Morgen saß sie bereits in der Maschine nach London.
Von Australien nach Triest. Genau umgekehrt wie einst die Großeltern. Mia lächelte, als das Flugzeug auf der Landebahn ausrollte, und sie lächelte noch immer, als sie ihren Koffer auf dem Weg zum Taxi hinter sich herzog. Der Taxifahrer grinste breit, als sie ihm in leicht angerostetem Triestiner Dialekt mit unüberhörbarem Akzent das Ziel nannte. Hundert Euro konnte ihm die Fahrt bis Servola bringen, wenn er nicht den direkten Weg über den Karst nahm, sondern über die Küstenstraße fuhr, wo der Verkehr sich staute.
»Es wird ein heißer Sommer. Woher kommen Sie?« fragte er beflissen.
»Australien«, antwortete sie maulfaul.
»Verwandtenbesuch?«
Mia nickte. Sie wollte nur ihre Ankunft genießen, nicht reden. Warum sollte sie diesem Mann, der sie ständig im Rückspiegel betrachtete, den wahren Grund ihrer Reise erzählen?
»Mein Vater war auch dort«, sagte der Taxifahrer. »Fast zwanzig Jahre lang. Hat meine Mutter und mich sitzenlassen. Und als er zurückkam, meinte er, daß er sich einfach wieder in sein altes Bett legen könnte. Aber da hatte er wohl schon vergessen, wie die Triestinerinnen sind. Die waren doch schon emanzipiert, als die Frauen im Rest Europas noch nicht alleine in Lokale gehen durften.« Er lachte und drehte sich halb zu ihr um. »Triestinerinnen haben ihren eigenen Kopf.«
Sie schaute stur aus dem Seitenfenster. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich auf den Wellen und tauchten das Meer in dunkles Violett, während sich über die Stadt im Osten bereits der Nachthimmel senkte. Mia schwitzte trotz des geöffneten Autofensters. In Australien war es Winter.
»Geregnet hat es hier zuletzt im Januar, seither herrscht Trockenheit. Die Zeitungen schreiben vom heißesten Mai seit hundert Jahren, und der Juni soll noch schlimmer werden.« Der Taxifahrer gab nicht auf und starrte sie im Rückspiegel an, als sie sich mit zwei Fingern an der Knopfleiste ihrer Bluse Wind zufächelte. »Dafür wird es dann wohl im August wieder regnen, wie im letzten Jahr. Waren Sie da auch hier?«
Mia schüttelte den Kopf.
»Viele Ausgewanderte kommen jedes Jahr zu Besuch. Sie hängen an der Stadt, auch wenn sie nicht mehr
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