Der Tod wirft lange Schatten
Siebzig angesprochen und sich als guten Freund von Diego de Henriquez vorgestellt hatte. Er ließ sich auch durch unhöfliches Benehmen nicht abschrecken. Angeblich war er ein vorzüglicher Kenner der Stadtgeschichte, der zufällig gehört habe, die Polizei sei dabei, den alten Fall neu aufzurollen. Er wolle sich natürlich nicht einmischen, empfinde es aber als seine Bürgerpflicht, den Kommissar darauf aufmerksam zu machen, daß es Zeitverschwendung sei, nach Verbindungen zwischen de Henriquez und Perusini zu suchen. Während Laurenti unbeirrt seinen Schinken verspeiste, erzählte der Unbekannte in gespreizter Sprache von seinen Begegnungen mit de Henriquez, den er über alles pries. Ein Ehrenmann und Patriot zugleich. Perusini war dagegen nichts anderes als ein »Finocchio«, ein warmer Bruder. Laurenti hörte ihm nur mit einem halben Ohr zu und sagte gelegentlich: »Soso!« Es war klar, daß der Mann wußte, wovon er sprach, doch legte er seine Worte so deutlich auf die Goldwaage, daß Laurenti schnell begriff, daß da nichts zu holen war. Vor allem sah er keinen anderen Ausweg, sich aus dieser Konversation zu befreien, als eilig sein Brötchen hinunterzuschlingen und das Weite zu suchen. Warum ließ man ihm nicht einmal beim Mittagessen seine Ruhe? Und woher wußte dieser Mann eigentlich, was vorging?
Es war noch nicht einmal eine Woche vergangen, seit man ihm diese beiden alten Fälle aufgebrummt hatte, und schon wußte die ganze Stadt Bescheid. Laurenti überlegte, mit wieviel Personen er bisher darüber geredet hatte und kam auf kaum zwei Hände voll. Alle waren vertrauenswürdig. Gut, Galvano redete vielleicht aus purer Langeweile und Wichtigtuerei darüber, Rossana Di Matteo hatte sicher einen ihrer Spezialisten in der Redaktion informiert, doch diese versuchten in stiller Übereinkunft stets guten Kontakt zu den Behörden zu halten. Walter in der »Malabar« wußte nur von de Henriquez, den er ja selbst gekannt hatte, aber nichts davon, daß auch der Fall Perusini wieder nach oben geschwemmt worden war. Auf seine Mitarbeiter konnte er sich trotz ihrer Macken verlassen. Und wer blieb sonst noch übrig? Mia natürlich, aber die wußte nur von der Lagerhalle und hatte keinen Schimmer von der Stadtgeschichte. Und Calisto, L’Orecchione, war ganz offensichtlich nur an seinem Geschäft interessiert und an sonst gar nichts.
Als er in die Questura kam, war sein Vorzimmer zwar verwaist, dafür saß in seinem Büro eine kleine Frau, die aussah, als würde sie sich vorwiegend von Anabolika ernähren. Ein Muskelpaket. Sie saß am Besuchertisch und blätterte in Il Panorama, dem politischen Wochenmagazin aus dem Hause Berlusconi. Ob sie die Dreißig schon überschritten hatte? Die schwarzen Haare trug sie noch kürzer geschnitten als Laurenti, und auf dem wohlgeformten Bizeps des linken Oberarms prangte ein zweifarbiges Tattoo, ein Herz mit dem Schriftzug »BASTA AMORE«. Besser kann man es nicht ausdrücken. Wie kam eine solche Witzfigur in sein Büro, und warum paßte Marietta nicht auf sie auf? Auf dem Schreibtisch lagen Akten, Dokumente und vertrauliche Dienstanweisungen, die nicht für Fremde bestimmt waren. Wo zum Teufel war Marietta?
»Prego!« Laurenti blieb lauernd in der Tür stehen.
Die junge Frau sprang auf und raste mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Sie sind der Kommissar? Gestatten, daß ich mich vorstelle: Giuseppina Cardareto, nennen Sie mich Pina.«
Laurenti verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und schaute die nervöse Kleine schweigend an. Dem Tonfall nach stammte sie aus Kalabrien.
»Ich bin die Neue«, strahlte Popeya namens Pina. Sie zog ein mehrfach gefaltetes Stück Papier aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, glättete es flüchtig und hielt es Laurenti hin, der, die Hände unverändert auf dem Rücken, einen flüchtigen Blick darauf warf, den Briefbogen des Ministeriums erkannte, fettgedruckt den Namen, Rang und das Geburtsdatum dieser Frau und daß sie sich tatsächlich heute hier zu melden hatte. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, Inspektorin, zuletzt in Ferrara eingesetzt, das Laurenti wegen der Unmenge an Radfahrern stets das Peking Italiens nannte. Aber es gehörte sich nicht, einfach hier zu warten. Wer hatte sie hereingelassen, und vor allem, warum war er nicht informiert, daß diese Zwergin heute hier anrücken sollte? Sgubins Dienstzeit war noch nicht zu Ende, und ein freier Schreibtisch für die Neue war weit und breit nicht zu finden. In manchen Räumen saßen die
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