Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman
tötete? Wog das nicht weniger schwer? Schließlich ist ein Polizist nicht wehrlos. Sein Vater hatte es ihm erklärt, ihn jedoch nicht überzeugen können. Und dafür gab es nur den einen Grund: Väter sind immer Faschisten. Schau, mein Junge, wenn die Polizei auftaucht, ist es aus, der Überfall ist beendet. Denn jeder weiß, wenn du einen Polizisten tötest, führt das zur Todesstrafe. Es gibt also gute Gründe, es zu lassen. Entweder die anderen Polizisten knallen dich ab, oder sie lassen es, dann trittst du bei vollem Bewusstsein deine Strafe an. Also ergib dich, ganz gleich, wie verzweifelt du bist. Wenn du dich ergibst, bleibt dir die Würgeschraube höchstwahrscheinlich erspart und alle gewinnen.
Deshalb dieses Gesetz. Wenn ein Polizist stirbt, bedarf es einer schrecklichen Strafe, damit keine anderen schrecklichen Dinge geschehen.
Sein Vater hatte Escolano nicht überzeugen können, auch seine konservative Haltung nicht, hinter der immer der Henker lauerte. Aber später, im Verlauf der Jahre, waren ihm Zweifel gekommen. Wenn die Angst so stark ist, dass sie dich lähmt, wird wahrscheinlich niemand zu Tode kommen. Aber was, wenn es diese Angst nicht gibt?
Erasmus schien seine Gedanken zu erraten.
Er murmelte:
»Mir wurde klar, dass ich eine Chance hatte zu entkommen – die Todesstrafe war abgeschafft –, auch wenn ich dafür noch jemanden töten musste. Ich riskierte zwanzig Jährchen, ein zweiter Mord wäre sozusagen gratis. Die einzige Kundin in der Bank war eine Frau, die vor Angst in Ohnmacht gefallen war, mit einem kleinen Kind. Es war die Nachbarin, die auf den Kleinen aufpasste, wie ich später erfuhr. Mein Kumpel und ich nahmen ihn als Geisel und verlangten freien Abzug. Und den gewährte man uns natürlich. Jetzt sehen Sie mich nicht so an, Herr Anwalt, dasselbe Gesicht hat auch ihr Vater gemacht. Wir verlangten zwei Motorräder. Mein Kumpel schaffte es, denn die Polizei hatte nur mich im Visier: Ich hatte den Jungen.
Ein junger Beamter hielt sich für den Retter der Welt, er hielt sich für Kirk Douglas oder Stallone, ich weiß es nicht, und schoss mir ins Bein. Ich spürte nur den Schmerz, taumelte zurück und konnte mit dem Gewicht des Kindes im Arm nicht mehr laufen. Jetzt ziehen Sie nicht so ein Gesicht, Herr Anwalt. Auch ein Kind wird einmal ein verdammter Tattergreis. Man muss das emotionsfrei betrachten.«
Erasmus schnippte mit den Fingern.
Plötzlich Stille in der Suite. Das Mädchen hatte aufgehört zu duschen, weil es vergeblich war. Der Schmutz war in ihr, sie hatte die Zunge des Kerls immer noch unter der Haut. Die Stadt unten war in Bewegung, hektische Betriebsamkeit, sie berechnete, wie viel andere Zungenbesitzer ausgeben und andere Mädchen kosten könnten. Komm schon, Anwalt, du Blödmann, komm endlich in der Wirklichkeit an und hör auf zu denken, was du gerade denkst.
Erasmus fuhr leise fort:
»Ich wurde natürlich verhaftet. Aber sie schossen nicht weiter auf mich. Ein paar Monate zuvor hätten sie mich niedergemäht, keine Frage, aber wenn damals ein Polizist den Finger zu locker am Abzug hatte, bekamen sie ihn genauso dran wie dich. Sie schleppten mich verwundet vor einen Richter, der gerade Vater geworden war. Als er hörte, was ich getan hatte, sah er mich so furchtbar an, wie ich es mein Lebtag noch nicht gesehen hatte. Und dann der Staatsanwalt. Selbst Ihr Vater, der alte Escolano, der als Pflichtverteidiger kam, wirkte, als würde er am liebsten meine Eier zu Hackfleisch verarbeiten. Mehr sage ich nicht, denn auch wenn Sie es mir nicht glauben, ich habe Respekt vor Anwälten. Kurzum, es war ein schneller Prozess, denn der Tathergang war klar, man titulierte mich mit allen möglichen Schimpfwörtern und verlangte die Todesstrafe.
Er öffnete die Hände, als wollte er sagen: »Was es alles gibt.« Escolano vermied es, ihn anzusehen. Er wundert sich nur, dass er sich an die Umstände nicht mehr erinnern konnte. Es war die Rede vom Jahr 80 des vorigen Jahrhunderts – ein komisches Gefühl, vom »vorigen Jahrhundert« zu sprechen, wenn man da schon gelebt hat. Damals war er ein blutjunger Jurastudent gewesen, und ein Fall wie dieser musste sein Gemüt erregt haben, auch wenn sein Vater ihm nichts davon erzählt hatte. Und plötzlich wusste er wieder warum. Er hatte wegen eines Motorradunfalls zwei Monate im Krankenhaus gelegen. Zwei Monate vor einer weißen Wand, einem alten Arzt, einer übergewichtigen Krankenschwester und sonst nichts. Ohne Radio, ohne Fernseher,
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