Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
zumindest eine Andeutung von Weiblichkeit. Die Schrift ist präzise, ohne kleinkariert zu wirken. Eine geschmeidige, exakt geschwungene Schrift, geschrieben in – Überraschung! – schwarzer Tinte.
Eine Menge Geschriebenes. Seite um Seite um Seite. Ich frage mich nachdenklich, worüber ein Teenager schreibt, der sich mit Schwarz umgibt. Ich frage mich, ob ich es wissen will.
Es ist ein lebenslanger Kampf für mich: Dinge nicht zu wissen. Ich bin mir der Schönheit des Lebens durchaus bewusst, wenn ich sie antreffe. Doch ich vergesse auch zu keiner Zeit, wie entsetzlich das Leben werden kann, wie monströs. Für mich wäre der Zustand des Glücks leichter zu erreichen, wenn ich nicht ständig diese widerstreitenden Kräfte in Einklang bringen müsste. Wenn ich nie fragen müsste: »Wie kann ich glücklich sein, wenn ich weiß, dass genau in diesem Augenblick jemand anders an einem anderen Ort etwas Grauenhaftes durchmacht?«
Ich erinnere mich, wie ich eines Nachts mit Matt und Alexa nach Los Angeles geflogen bin. Wir kamen aus dem Urlaubzurück. Alexa hatte den Platz am Fenster. Als wir im Landeanflug durch die Wolken sanken, stieß sie einen überraschten Laut aus.
»Sieh nur, Mami!«
Ich beugte mich zum Fenster und blickte nach draußen. Unter uns lag Los Angeles, ein Meer von Lichtern, von Horizont zu Horizont.
»Ist das nicht schön?«, rief Alexa.
Ich lächelte. »Es ist wunderschön, Liebes.«
Es war wunderschön gewesen. Und grauenvoll zugleich. Weil ich wusste, dass genau in diesem Moment irgendwo dort unten Haie in diesem Meer aus Lichtern auf Beutezug waren. Noch während Alexa mit großen Augen auf die Stadt schaute, wurden dort unten Frauen vergewaltigt, Kinder missbraucht und andere Abscheulichkeiten begangen, an die ich gar nicht erst denken wollte.
Mein Vater hat mir einmal gesagt: »Vor die Wahl gestellt wird ein Durchschnittsmensch lieber unwissend lächeln als die Wahrheit hören.«
Ich hatte herausgefunden, dass es tatsächlich so war. Für die Opfer – und für mich selbst.
Es ist nur Wunschdenken, diese Hoffnung auf »Nichtwissen«. Ich werde Sarahs Tagebuch lesen, und ich werde mich von dieser schwarzen kursiven Schrift führen lassen, wohin sie mich führen will, und dann werde ich wissen, was sie mir erzählt.
Das Geräusch der Kamera erfüllt den Raum und erschreckt mich jedes Mal, wenn Dan den Auslöser betätigt.
Es ist kurz vor neun, als ich mit Barry nach unten gehe. John Simmons bemerkt Barry und winkt uns zu sich. Er hält eine Digitalkamera in der Hand.
»Es gibt gute Nachrichten«, sagt er. »Wir konnten latente Fußabdrücke von den Fliesen am Pool abnehmen. Sehr sauber.«
»Großartig!«, sage ich.
»Zu schade, dass wir keine Datenbank haben, mit denen wir die Abdrücke vergleichen können«, bemerkt Barry.
»Nichtsdestotrotz sind die Fußabdrücke bemerkenswert «, erklärt Simmons.
Barry runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
Simmons reicht ihm die Kamera. »Sehen Sie selbst.«
Es ist eine digitale Spiegelreflexkamera mit einem LCD-Bildschirm auf der Rückseite, auf dem man die aufgenommenen Bilder begutachten kann. Die Auflösung dieser Kameras reicht heutzutage völlig aus, um damit einzelne Abdrücke zu fotografieren. Das Foto auf dem Schirm ist winzig, doch wir können sehen, was John meint.
»Sind das Narben?«, frage ich.
»Ich denke schon.«
Die Fußsohle ist bedeckt von Narben. Lange, dünne Narben, die ausnahmslos quer verlaufen.
Barry gibt Simmons die Kamera zurück. »Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«
»Ja, allerdings. Ich habe drei Einsätze als Freiwilliger bei Amnesty International geleistet und bei Post-mortem-Untersuchungen von Folteropfern geholfen. Außerdem war ich bei der Spurensicherung an vermuteten Folterschauplätzen dabei. Diese Narben sehen aus, als wäre das Opfer mit einem Rohrstock ausgepeitscht worden.«
Ich zucke zusammen. »Das müssen schreckliche Schmerzen sein.«
»Unerträgliche Schmerzen. Wenn es nicht fachgerecht gemacht wird, kann es das Opfer für den Rest seines Lebens verkrüppeln. Im Allgemeinen soll eine Bastonade, wie man solche Schläge auf die Fußsohlen nennt, dem Opfer lediglich Schmerz zufügen.«
»Sind die Narben auf beiden Füßen?«, fragt Barry.
»Auf beiden.«
Wir schweigen, während wir über diese Wendung der Dinge nachdenken. Die Möglichkeit, dass unser Freund irgendwann eine Folter über sich ergehen lassen musste, ist für das Täterprofil von immenser Bedeutung.
»Es stimmt
Weitere Kostenlose Bücher