Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
bestimmten Zyklus. Der Mord selbst ist der Höhepunkt dieses Zyklus, dann folgt Depression. Damit meine ich nicht, dass der Killer sich bloß niedergeschlagen fühlt. Ich rede von einer tiefen und erschütternden Depression. Unser Täter jedoch hat erst hier gemordet, ist am nächsten Tag aufgewacht und hat die Kingsleys getötet. Das ist sehr ungewöhnlich.«
»Alles an diesem Fall ist ungewöhnlich. Alles an diesem Fall ist scheiße«, brummt Barry.
Während Callie sich mit Gene in Verbindung setzt, erhalte ich einen Anruf von Alan.
»Ich bin hier fertig«, sagt er. »Alles okay bei euch?«
»Das kommt darauf an, wie du ›okay‹ definierst«, antworte ich und berichte in knappen Worten, was wir vorgefunden haben.
»Er hat uns den ›großen Gefallen‹ getan.«
Von einem »großen Gefallen« reden wir, wenn der Täter ein zweites Mal zugeschlagen hat, bevor wir Zeit gefunden haben,über den ersten Tatort nachzudenken. Sehr häufig liefert der erste Tatort nicht genügend Spuren, als dass sie uns zum Täter führen könnten. In diesen Fällen können wir nichts tun als warten, bis er erneut zuschlägt, und hoffen, dass er beim zweiten Mal sorgloser zu Werke geht. Oder beim dritten Mal.
Oder beim vierten Mal.
Es ist entmutigend und weckt tiefe Schuldgefühle gegenüber den Opfern. »Der große Gefallen« ist ein sarkastischer Ausdruck – und zugleich auch wieder nicht. Der Killer hat uns einen zweiten Tatort geliefert, ohne dass wir uns deswegen schuldig fühlen müssen, weil es passiert ist, ehe wir die Verantwortung übernommen haben. Erst von diesem Augenblick an lastet alles Weitere auf uns.
»Was hast du herausgefunden?«, frage ich Alan.
»Nichts. Niemand hat etwas Ungewöhnliches bemerkt. Keine fremden Fahrzeuge, keine fremden Personen. Andererseits ist das hier eine von den Wohngegenden der absolut mittleren Mittelschicht.«
Alan bezieht sich auf eine Studie, die er mir vor kurzem hat zukommen lassen. Es ist eine soziologische Arbeit, die sich mit kriminologischen Ermittlungen befasst. In der Studie wird untersucht, wie technologischer Fortschritt, gesellschaftliche Veränderungen und die Wahrnehmung von Verbrechen als solchen unsere Arbeit immer schwieriger machen. Es geht im Grunde darum, dass die Menschen ihre Nachbarn in früheren Zeiten meist besser kannten. Wohngegenden waren Gemeinschaften. Frauen waren in erster Linie zu Hause und kümmerten sich um die Kinder. Das Ergebnis war eine größere Anzahl aufmerksamer Zeugen, was die nicht-forensische Arbeit erleichtert hat. Außenseiter fielen stärker auf.
Mit den Jahren stieg die Verbrechensrate. Frauen gingen arbeiten. Selbst dort, wo die Verbrechensrate im Grunde gar nicht stieg, gab es eine diesbezügliche Sensibilisierung. Hinzu kam, dass Dinge, die früher unter den Teppich gekehrtwurden – beispielsweise die Misshandlung von Frauen und Kindern, Kindesmissbrauch und Vergewaltigung in der Ehe –, immer mehr wie die Verbrechen empfunden wurden, die sie schon immer gewesen waren. Sie fanden Eingang in die Medien. Die Leute erkannten, dass jeder Nachbar seine Frau schlagen oder seine Kinder missbrauchen konnte. Dass der typisch amerikanische, stets gut gelaunte, fröhliche High-School-Quarterback ein brutaler Vergewaltiger sein konnte. Familien zogen sich in ihre Wagenburgen zurück, und der Radius dieser Burgen wurde von Jahr zu Jahr kleiner.
Heutzutage, so stellt die Studie fest, gibt es diesen alten Gemeinschaftssinn in den meisten Mittelschicht-Wohngegenden gar nicht mehr. Die große Mehrzahl der Bewohner kennt die Namen der Nachbarn rechts und links, aber das ist auch schon alles.
Ärmere Wohngegenden tendieren im Gegensatz dazu zu mehr Zusammenhalt. Reichere Wohngegenden tendieren zu mehr Sicherheitsbewusstsein und Wachsamkeit. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die beste Gegend für ein Verbrechen jene Viertel sind, in denen die »mittlere Mittelschicht« lebt, wo jedes Zuhause eine Insel ist, weil in diesen Gegenden ein Verbrechen eher durch Forensik gelöst wird als durch die Beobachtungen von Zeugen.
»Trotzdem«, sagt Alan unbeeindruckt. »Drei Häuser weiter fand eine Geburtstagsparty statt. Jede Menge Kinder und Eltern zu Besuch.«
»Was uns zumindest verrät, dass unser Freund nicht auffällig ist«, sage ich. »Möglicherweise hat er eine Uniform getragen.«
»Das glaube ich nicht. Ich habe nachgefragt. Niemand kann sich erinnern, einen Gas-, Elektro- oder Telefonmenschen gesehen zu haben. Abgesehen davon wäre
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