Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
von Hand bemalt mit Bildern, das Werk ihrer Mutter. Sarahs Blick heftete sich auf ihr Lieblingsbild: das Baby allein im Wald.
Jemand, der nur davon hörte, ohne es zu sehen, mochte annehmen, dass es ein gruseliges Bild war. Doch das war es nicht, ganz und gar nicht.
Das Baby, ein Mädchen, lag friedlich und mit geschlossenen Augen auf einem Bettchen aus Moos. Zu seiner Linken standen Bäume, zur Rechten plätscherte ein Bach. Die Sonne schien, am Himmel waren ein paar Wolken, und wenn man genau hinsah, konnte man in diesen Wolken ein lächelndes Gesicht erkennen, das auf das kleine Mädchen herabblickte.
»Schaut das Gesicht auf das Baby, Mommy?«
»Ja, Schatz. Auch wenn es allein im Wald ist, die Frau in den Wolken wacht über es. Es ist nie allein.«
Sarah hatte das Bild angestarrt. Es hatte ihr gefallen.
»Das Baby bin ich, nicht wahr, Mommy? Und die Frau in den Wolken, das bist du?«
Ihre Mutter hatte gelächelt, dieses Lächeln, das Sarah so sehr liebte. Es hatte keine Geheimnisse, keine verstecktenBedeutungen. Es war wie die Sonne, strahlend und hell und glücklich und wärmend.
»Ja, Baby. Das bedeutet dieses Bild für dich, für mich und für jeden, der es anschaut.«
Sarah war verwirrt gewesen. »Bist du auch für andere Menschen die Frau in den Wolken?«
»Nein, die Frau in den Wolken ist die Mutter. Die Mutter für andere Menschen, egal ob sie erwachsen sind und irgendwo draußen in der Welt unterwegs. Sie sind niemals allein, ihre Mütter sind immer bei ihnen.« Sie hatte ihre Tochter genommen und spontan umarmt, und Sarah hatte gelacht. »So sind Mütter, überall. Sie wachen für alle Zeiten über ihre Kinder.«
Das Bild war ein Geschenk zu Sarahs fünftem Geburtstag gewesen. Es hing an der Wand gegenüber dem Fuß ihres Bettes. Ein Talisman.
Sarahs Mutter kaufte nie Geburtstagsgeschenke. Sie machte sie selbst. Sarah liebte jedes einzelne davon. Sie konnte gar nicht abwarten zu sehen, was sie morgen bekommen würde.
Sie schloss einmal mehr die Augen und tätschelte Buster (der ihre Hand leckte), während sie versuchte, sich auf das Einschlafen zu konzentrieren.
Sobald sie ihre Bemühungen einstellte, schlief sie ein. Mit einem Lächeln im Gesicht.
Als Sarah erwachte, bemerkte sie als Erstes, dass Buster nicht da war. Seltsam. Der Hund ging mit ihr zusammen schlafen und stand mit ihr zusammen auf, jeden Tag.
Als Zweites fiel ihr auf, dass die Sonne nicht schien. Auch das war seltsam. Es war dunkel, wenn sie die Augen zum Schlafen schloss, und es war hell, wenn sie sie wieder aufschlug. So war es immer.
Die Dunkelheit hatte etwas Ungewöhnliches. Etwas Schweres, Bedrohliches. Sie fühlte sich nicht mehr so an wie dieDunkelheit vor ihrem Geburtstag. Sie war mehr wie die Dunkelheit in einem Schrank, in dem man eingesperrt war. Stickig, heiß und ganz nah an einem dran.
»Mommy?«, flüsterte Sarah. Ein Teil von ihr wunderte sich, warum sie nicht lauter nach ihrer Mutter rief. Wenn sie wirklich von Mommy gehört werden wollte, warum flüsterte sie dann?
Ihr sechsjähriger Verstand lieferte die Antwort: Sie hatte Angst, dass irgendetwas, irgendjemand anders sie ebenfalls würde hören können. Was immer es war, das diese bedrohliche Dunkelheit erschaffen hatte.
Ihr Herz schlug unglaublich schnell, und ihr Atem ging noch schneller. Sarah näherte sich einer Panik, dem Ort, an dem man aus einem Albtraum erwacht – nur dass nach einem Albtraum immer Buster bei ihr gewesen war, und jetzt war er verschwunden …
Sieh auf das Bild, Dummerchen , schalt sie sich.
Sie suchte in der Dunkelheit nach dem Gemälde ihrer Mutter an der Wand. Das Baby, schlafend im Moos, friedlich und geborgen. Sie starrte auf das Gesicht in den Wolken. Das Gesicht bedeutete Mommy, es drängte die unheimliche Dunkelheit zurück, es sagte, dass Buster draußen im Garten war, dass er die Hundeklappe benutzt hatte, um sich zu erleichtern und dass sie nur aufgewacht war, weil sie gemerkt hatte, dass Buster gegangen war. Bald würde er zurück sein, und sie würde wieder einschlafen und am Morgen erwachen, und dann wäre ihr Geburtstag.
Ihr Herzschlag beruhigte sich bei diesen Gedanken. Ihr Atem ging wieder langsamer, und ihre Angst versiegte. Sie kam sich beinahe dumm vor.
Schon fast erwachsen und Angst in der Dunkelheit wie ein kleines Baby.
Dann hörte sie die Stimme, und sie wusste, dass es die Stimme eines Fremden war, hier in ihrem Haus, in der Dunkelheit.Das Entsetzen kehrte zurück, und ihr Herz stockte. Sie
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