Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
die Zeichnung. Sein Großvater hatte sich freundlich dargestellt, mit einem verschmitzten Lächeln unter den weiß gelockten Haaren. Genau so hatte Simon ihn in Erinnerung. Er musste an den vergangenen Sommer denken, als er die Sommerferien mit ihm verbracht hatte. Sein Großvater hatte ihm viele Dinge beigebracht, die ihm jetzt nützten, sogar Spuren konnte Simon nun lesen. Damals hatte er nicht geahnt, dass ihn sein Opa auf seine Zeit als Torwächter vorbereitete. Es war einfach nur ein toller Sommer gewesen.
Ira hatte die Seiten des Skizzenbuches weitergeblättert, jetzt stutzte sie bei einer Zeichnung. »Das ist unsere Stadt!« Sie wies auf eine mit groben Strichen auf das Papier geworfene Skizze. Das Bild zeigte Drhans Reich auf der anderen Seite der Bucht, deutlich war die matt glänzende Mauer zu erkennen, die das Stadtzentrum umgab. Auch der Tower erhob sich aus dem Moloch von Schloten und Hochhäusern, so hoch und so mächtig, wie Simon ihn vorhin gesehen hatte.
»Glaubst du mir jetzt?«
Plötzlich hörten sie hinter sich Schritte, Steine knirschten unter schweren Stiefeln. Erschrocken fuhren sie herum. Ein Mann stand vor ihnen, sehr groß und breitschultrig, er trug schwarze Kleidung, die ihn mit der Nacht verschwimmen ließen. Feindselig starrte der Hüne Simon an. »Los! Mitkommen.«
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3
Simon wich zurück, als der Mann auf ihn zukam. Ira neben ihm war wie erstarrt. Sie hielt das Skizzenbuch fest mit ihren Händen umklammert. Simon unterdrückte den Wunsch zu fliehen, er schubste Ira zur Seite, um sie aus ihrer Versteinerung zu lösen. »Lauf!«, schrie er, bevor er aufsprang und direkt auf den Riesen zustürzte, um Ira die Flucht zu erleichtern.
Der Hüne war verblüfft von dem Angriff. Er versuchte, Simon festzuhalten, doch der schlug in letzter Sekunde einen Haken und tauchte unter den Armen des Mannes hindurch. So schnell er konnte, rannte Simon davon. Der Hüne wirbelte herum und setzte ihm nach, Simon hörte seine Schritte hinter sich, sie kamen rasch näher. Gerade als er den Rand des Platzes erreicht hatte, packte ihn sein Verfolger und warf ihn zu Boden. Dreck wirbelte auf und drang in Simons Mund, er hustete, doch der Mann, der nun auf ihm kniete, ließ nicht locker. Ohne Rücksicht riss er Simons Arme nach hinten und fesselte sie mit einem Paar Handschellen. Erst dann zog er ihn hoch.
Simon hustete und spuckte Dreck direkt vor die Füße des Mannes. Dabei sah er sich unauffällig um. Ira war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Der Hüne betrachtete ihn verächtlich. Dann, ohne ein Wort zu sagen, packte er Simons Arm und zerrte ihn mit sich. Simon schrie auf, der Griff war fest wie ein Schraubstock. Sie gingen zurück zum Lagerfeuer, der Mann schnappte sich Simons Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und löschte mit ein paar Tritten die Flammen. Dann, ohne Simons Protest zu beachten, zog er ihn mit sich in die Gassen des Dorfes hinein. Glasscherben knirschten unter ihren Füßen.
Simon warf seinem Begleiter einen unauffälligen Blick zu. Er kannte den Mann, er war einer der Dorfbewohner. Auf der Suche nach seinem Großvater hatte er ihn häufiger unten am Hafen gesehen, zusammen mit einem sehr alten weißhaarigen Mann.
»Warum tust du das?« Simon hustete kurz und spuckte ein paar Sandkörner aus. »Wohin gehen wir?«
Der Hüne schwieg.
Simon versuchte es noch einmal, doch der Mann beantwortete keine seiner Fragen.
Nach einer Weile bogen sie in eine schmale Straße ein, sie schlängelte sich zwischen den Ruinen den Hang hinab und endete an einer Treppe. Simon kannte die Abkürzung, sie führte direkt hinunter zum Hafen. Schweigend stiegen sie die Stufen hinab. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, wirkten verlassen, auch aus den Kellergewölben, in denen die Menschen lebten, drang kein Lichtschein. Außer ihnen schien niemand wach zu sein. Doch da hörte Simon das Stimmengemurmel, das der Wind zu ihnen herübertrug. Es waren die Dorfbewohner, die sich in der alten Markthalle am Rand des Hafenkais versammelt hatten. Sie erwarteten ihn dort.
Als Simon an der Seite des Hünen das verfallene Gebäude betrat, wurde das Stimmengemurmel leiser, es verwandelte sich in ein Wispern, ein Raunen, bis es schließlich ganz erstarb. Ein kleines Mädchen kicherte. Dann war nur noch der Wind zu hören, der vom Meer herüberkam und der durch die zerbrochenen Fenster in das Innere der Halle wehte. Einige Nächte zuvor hatte Simon genau hier mit Ashakida sein Lager
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