Der Tote am Lido
den Fingerkuppen abgetrennt hatte, um sich der Identifizierung und der damit verbundenen Abschiebung zu entziehen, war gewaltsam zu Tode gekommen. Vielleicht von Schleppern erschlagen, vielleicht von einer rivalisierenden Gruppe von Dealern oder fliegenden Händlern. Egal. Das Wort »egal« stand nirgendwo, aber Lunau hörte es heraus. Jährlich starben im Mittelmeer Zehntausende, das »Mare nostrum« war ein Massengrab, das sich zwischen den afrikanischen und den europäischen Kontinent geschoben hatte. Wenn sich ein Grabdeckel öffnete und sich eine dieser zahllosen Leichen den Augen der Badegäste zeigte, dann war das bedauerlich, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit aber nicht zu verhindern.
Lunau passierte das herrschaftliche Stadttor, das ihnan seinen ersten Besuch in Ferrara erinnerte. Damals hatte ihn die eigentümliche Mischung aus mittelalterlichen Gassen und luftiger Renaissancepracht betört, bis man versucht hatte, ihn mit dem Auto zu überrollen. Er fuhr über die schnurgerade Hauptachse Richtung Zentrum, suchte einen Parkplatz, und als er die Wagentür öffnete, schlug ihm eine klebrige Hitze entgegen, wie er sie nur in den Tropen erlebt hatte. Jetzt wurde klar, warum sich alle Ferrareser in den Sommermonaten an die Küste flüchteten. Häuser, Straßen, ja selbst die vertrockneten Grünflächen strahlten eine gallertartige Schwüle ab, die jeden Schritt zur Qual machte.
Die Questura lag schräg gegenüber dem Palazzo dei Diamanti, einem der Wahrzeichen der Stadt, vor dem sich gewöhnlich die Touristen drängten. Aber auch für den Palazzo war Sommerurlaub.
Balboni empfing Lunau freundlich in seinem Büro. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, lud er Lunau sogar auf einen Kaffee aus dem Automaten ein. Auch er schien sich jetzt daran zu erinnern, dass sie schon einen Mordfall gemeinsam aufgeklärt hatten. Auch wenn Balboni auf diese Zusammenarbeit keinen Wert gelegt hatte.
Sie rührten mit dem Plastikstick in den kleinen geriffelten Bechern, in denen die Schaumbläschen kreiselten.
»Und?«, fragte Lunau.
Balboni warf genervt seinen halbvollen Becher in die Mülltone. »Was heißt: und?«
»Wie weit Sie mit den Ermittlungen sind.«
Balboni schüttelte den Kopf. »Die Sache ist verdammt schwierig. Der Mann hatte keine Papiere bei sich, keine persönlichen Gegenstände. Die Kleidung ist billige Importware, vermutlich in Bangladesch produziert und über China vertrieben. Keine Tätowierung, keine Operationsnarbe.«
»Alter?«
»Um die Dreißig.«
»Ja, und weiter?«
»Hören Sie, wir machen unsere Arbeit. Das können Sie mir glauben.«
Lunau hob die Hände. »Niemand stellt das in Abrede.«
Balboni schaute ihn an, die Sehnen am Hals waren gespannt. Wieder war dieser leidende Zug in seinem Gesicht. War er ernsthaft erkrankt?
»Nicht, was Sie denken«, sagte der Ermittler.
»Was denke ich denn?«
»Weil er ein Illegaler war, deshalb interessiert er uns nicht.«
»War er denn ein Illegaler?«
Balboni zuckte mit den Achseln.
»Was ich mich frage: Wieso sich soviel Mühe geben, um das Gesicht eines Menschen unkenntlich zu machen, der sowieso anonym ist?«, sagte Lunau.
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn die Vermutungen der Presse stimmen, dann haben wir es mit einem illegalen Einwanderer zu tun, mit jemandem, dessen Papiere vernichtet sind, der sichan den Wänden eines Erstaufnahmelagers die Fingerkuppen abgescheuert hat, damit er nicht identifiziert werden kann. Er ist also namenlos. Wieso dann ein solcher Aufwand, ihm auch noch das Gesicht zu nehmen? Wer hätte dieses Gesicht erkennen können? Andere Illegale, die sich sowieso nicht zur Polizei trauen? Wer konnte dem Mörder gefährlich werden?«
Balboni schwieg.
»Das wird jetzt aber keine Reportage für die deutschen Medien, oder?«
»Ich stelle mir nur die Fragen, die sich aufdrängen. Ist die Haut an den Fingerkuppen vor oder nach dem Exitus entfernt worden?«
Balbonis Gesicht war starr. »Wir haben den Obduktionsbericht noch nicht.«
»Sie sollten auf dieses Detail achten.«
Balboni knurrte einen Gruß und verschwand durch die Tür seines Büros. Die Hand hatte er Lunau nicht gegeben.
5
Lunau lag wieder auf der Sonnenliege und versuchte, sich mit dem Nichtstun abzufinden. Anfangs waren ihm der öde Sandstrand und das grau-braune Wasser wie eine krankhafte Verzerrung vorgekommen, aber da die Kinder ausgelassen im Sand und an den Hüpfburgen spielten und nichts zu vermissen schienen, ließ er sich von der Brandung und der
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