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Der Tote am Lido

Der Tote am Lido

Titel: Der Tote am Lido Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Foersch
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gesagt. Nur einen Satz, wir haben ihn nicht verstanden, aber die Psychologin meint, das könnte ein Anfang sein.«
57
    Sara saß auf Mirkos Bett und sah, wie sich der Kopf ihres Bruders über dem weißen Blatt bewegte. Er lag auf dem Bauch, die Arme angewinkelt, und seine rechte Hand, die einen Filzstift umklammert hielt, zuckte mit irrsinniger Hast. Der Stift hinterließ auf dem Blatt blutige Spuren. Und sie wusste, dass auch der Kopf, den er knapp über dem Papier hielt, voller Blut war.
    Der Vater war tot, die Mutter war gegangen, und bald würde auch Mirko nicht mehr da sein. Sie alle würden in der Erde vergraben oder verbrannt werden. Und es stimmte nicht, dass man einander wiedersah. Man war tot, und dann blieb man tot und alleine für immer.
    Vorher wollte sie ihn noch einmal rufen, auch wenn es keinen Sinn hatte. Aber kein Laut kam über ihre Lippen. Immer wieder nahm sie Anlauf, wollte sich zu ihm beugen, doch eine Hand riss sie zurück, eine Stimme, SEINE Stimme, verbot ihr, den Bruder zu berühren. So wie Mirko sie nicht mehr berührte.
    »Zehn Minuten, nur zehn Minuten«, hatte die Mutter gesagt, aber sie hatte gelogen, wie immer. Stunden waren vergangen. Es war Nacht geworden und Tag, und dann wieder Nacht. Sie hatte das Haus verlassen, sie hatte Sara verlassen, mit einer freudigen Begeisterung hatte sie draußen die Autotür zugeworfen, sie hatte gar nicht schnell genug wegkommen können, so hatten die Reifen gequietscht. Vielleicht war sie gegen eine Mauer gefahren und hing mit zerschmettertem Gesicht in ihrer Windschutzscheibe. Windschutzscheibe, dachte sie und horchte lange dem Wort in ihrem Kopf nach. Ein komisches Wort, ein dummes Wort.
    Wer brauchte schon Schutz gegen Wind, wenn er Auto fuhr? Und wer brauchte all diese Wörter? Halfen sie vielleicht?
    Mirko sah auf und grinste sie blöde an. Wusste er nicht, dass sie in diesem Haus verhungern würden? Auch wenn sie gar keinen Hunger mehr hatten?
    Da hörte sie die Reifen auf der Bordsteinkante und eine Tür, die zuschlug, dann noch eine Tür. Der Schlüssel in der Haustür war nicht der Schlüssel der Mutter. ER war zurückgekommen. Mirko, wollte sie sagen. Hörst du IHN nicht kommen? ER wird ins Zimmer treten und uns mitnehmen. Oder wird ER dich wieder verschonen? Mirko fuhr weiter über das Blatt und hörte nichts. Jetzt sprang er auf und ging IHM entgegen. Ahnungslos lief er die Treppe hinab. Oder war er gar nicht so ahnungslos?
    Die Zimmertür ging auf, blieb offen stehen. Sie wünschte, sie wäre zu, sie wünschte, sie könnte sichdie Decke über den Kopf ziehen und verschwinden, aber dazu hätte sie sich bewegen müssen.
    Eine Stimme, die wie die Stimme der Mutter klang, so wie im Märchen vom bösen Wolf. Mirko kam zurück.
    Die Schritte waren schwer und bedrohlich. Viele Füße gleichzeitig, von gewichtigen Männern.
    Und dann stand die Mutter in der Tür und lächelte, als ob Sara nicht wüsste, dass sie eine Lügnerin war und IHM den Weg bereitete.
    Ihr Atem, ihre warme Haut, nach der sie sich einmal so gesehnt hatte. In dem anderen Raum, mit dem Heizungsrohr und der schweren Tür. Damals war sie nicht dagewesen, wie immer, wenn es darauf ankam. Aber dieser Atem und diese Wärme fuhren ihr in Glieder und Brust. Sie wollte sprechen, sie wollte schreien, aber es ging nicht.
    Der Mann neben der Mutter war blond, hatte gelocktes Haar, sein Gesicht war entstellt. Es lächelte, dieses Gesicht, als spürte es keinen Schmerz. Seine Stimme ertönte, und sie klang sanft und wohlig, obwohl er die Konsonanten ungelenk aussprach. Es war die Stimme, die ihnen Geschichten erzählt hatte, die Stimme von Kaspar, der ihr die Strandtasche gepackt, Essen gekocht und Zappaterra gefangen hatte. Hatte er auch IHN gefangen?
    Er lächelte, und die Mutter lächelte, und da brach plötzlich etwas heraus aus Sara. Ein Heulen hing im Raum, zog in ihren Schultern und in ihrem Nacken. Aber dieses Heulen, das aus ihr brach, hauchte allem Leben ein.
    Sie spürte die Arme, die sich um sie schlangen. Die Mutter lachte und weinte und lachte, und Kaspars glatte, starke Unterarme lagen um sie, weich wie ein Pelzkragen und fest wie ein Panzer.
    »Hast du IHN gefangen?«, fragte Sara.
    Zwei Stunden später lagen sie noch immer zu viert auf dem Boden und sahen, wie erste Schatten auf die Zimmerdecke fielen. Niemand sprach, bis Sara etwas in ihrem Bauch spürte, das ihr gleichzeitig unangenehm und angenehm vertraut vorkam.
    »Mamma, ich habe Hunger«, sagte sie. Kaspars Arme

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