Der Tote am Lido
Sonne betäuben. Alle paar Minuten kam ein Schwarzer vorbei, begrüßteLunau mit »Capo« oder »Signore«, jammerte, wie schlecht die Geschäfte gingen und wedelte mit grellbunten Handtüchern, Damenhandtaschen, billigem Schmuck oder Kinderspielzeug herum. Jedes Mal wenn Lunau in das Gesicht eines Afrikaners sah, musste er an die Leiche denken, an das gebrochene Nasenbein, die Splitterungen an den Jochbögen.
»Wollt ihr ein Eis?«, fragte Lunau die Kinder, die sich seit dem Fund dem Wasser nur noch selten näherten und meist in der Nähe des Sonnenschirms spielten.
»Ich darf um diese Uhrzeit kein Eis essen, das weißt du genau«, fauchte Mirko und klatschte eine Schippe Sand auf einen Haufen.
»Tut mir leid, ich hatte nicht daran gedacht. Können wir nicht eine Extradosis Insulin spritzen?«, meinte Lunau.
»Das ist schädlich.«, knurrte Mirko.
Lunau wusste nicht, ob das stimmte.
»Ich fänd’s toll«, sagte Sara und sprang auf. »Du bist doch nicht sauer auf mich, oder?«
»Nein«, knurrte Mirko.
Lunau streckte ihr die Hand hin, und sie legte ihre schmalen, weichen Finger in die seinen. Er zögerte einen Moment, wollte seine Einladung aber nicht zurückziehen und nahm sich vor, Mirko etwas zum Spielen mitzubringen.
»Bleib bitte am Sonnenschirm, bis wir zurück sind«, rief er dem Jungen zu.
Mirko antwortete nicht. Aber Lunau wusste, dass Verlass auf ihn war.
In der Strandbar suchte Sara sich ein Eis aus, und dann setzten sie sich unter ein Schilfdach, ließen sich die warme Luft um die nackten Beine wehen und genossen den Schatten, während das Geschrei der Badegäste nur noch in lauen Fetzen herübergeweht wurde. Lunau blätterte die Zeitungen durch. Langatmige Interviews mit Kandidaten der bevorstehenden Wahl. Männer in grauen Anzügen hatten sich mit ihren Kindern, mit ihren Ehefrauen und ihren Haustieren fotografieren lassen. Alle lächelten, alle hatten Italien im Sinn. Aber niemand war so oft fotografiert worden wie Schiavon. Wie hatte er das geschafft? Vor drei Monaten war er nur Insidern bekannt gewesen, jetzt schien er auf einmal eine enorme Popularität zu genießen. Was war den Sommer über passiert?
»Und?«, fragte Sara und schaute ihn mit großen Augen an, während ihre knallrote Zunge an dem cremigen Eis schleckte.
»Was: und?«
»Was sagen die Zeitungen zu dem Mann?«
»Sie sagen gar nichts.«
Lunau hatte nicht eine Zeile zu dem Thema gefunden.
»Wer macht so etwas?«, fragte Sara.
Lunau schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Jemand, der diesen Mann gehasst hat oder eifersüchtig war oder Angst vor ihm hatte.«
»Zappaterra?«
Andrea Zappaterra war der Mann, der Saras Vater umgebracht hatte. Das war erst viereinhalb Monate her,und doch kam es Lunau vor wie in ferner Vergangenheit. Er hatte sogar Mühe, sich das Gesicht des klobigen Kerls vorzustellen, während Vito Di Natale, Saras Vater, seine dunklen Locken und seine kleinen, flinken Augen, denen er nur zwei Mal begegnet war, in seiner Erinnerung lebendig waren. Vielleicht weil Sara vor ihm saß, mit denselben Locken und demselben Blick. »Nein, Zappaterra sitzt im Gefängnis«, sagte Lunau.
»Dann gibt es noch einen Mörder hier.«
Lunau nickte.
»Was macht er jetzt?«
»Keine Ahnung.«
»Versteckt er sich vor der Polizei?«
»Vielleicht. Aber die Polizei weiß nicht, wer es ist.«
»Und du?«
»Ich auch nicht. Sonst würde ich es der Polizei sagen.«
»Aber wenn die Polizei ihn nicht findet, dann kann er auch noch andere Leute umbringen. Auch Mama oder mich.«
»Das wird er nicht. Euch hasst der Mörder nicht.«
»Woher willst du das wissen? Du kennst ihn doch gar nicht.«
Lunau schwieg.
»Oder kennst du ihn doch?«
»Nein. Aber wer sollte euch hassen?«
Sara leckte nicht mehr an ihrem Eis. Lunau ließ den Blick über den Strand schweifen, suchte Mirko, aber die dichten Schirmreihen verdeckten die Sicht.
»Wir gehen zurück.«
»Sag mir erst, ob du ihn kennst.«
»Nein.«
»Aber du würdest ihn gerne kennen.«
»Ja.«
»Dann such ihn doch.«
»Das ist nicht so einfach. Die Polizei kann das besser.«
»Zappaterra hast auch du gefunden.«
»Das war Zufall.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du bist klüger als die Polizei.«
»Bin ich nicht. Frag Mirko, der meint, ich bin sogar dümmer, als die Polizei erlaubt.«
»Er würde dich gerne mögen, aber er kann nicht, weil du nicht Papa bist.«
Lunau nickte und schaute in Saras Augen. Er stand auf, damit er nicht die Fassung verlor. Er dachte an seine
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