Der Tote am Lido
Touristen unterzutauchen, aber um diese Zeit lag der Corso , die Fußgängermeile mit den Pizzerien, Eisdielen und Spielhöllen, verlassen da. Joy rannte bis zum Ortsrand. Lunau war auf wenige Meter herangekommen. Ihre Füße wirbelten vor seinen Augen. Ihr Laufstil war nicht elegant, aber effizient. Er wollte einen Arm nach ihr ausstrecken, als er angebrüllt wurde. Ein Fahrradfahrer war aus einer Einfahrt geschossen und schlitterte vor Lunau über die Betonplatten. Lunau half ihm auf.
Die Badeorte, die man als »Lidi Ferarresi« bezeichnet, ziehen sich als ein einziger Betongürtel von den Sumpfgebieten nördlich vom Ravenna bis ins Po-Delta hin. Der südlichste Ort ist Lido di Spina, daran schließt sich, nur durch einen Kanal getrennt, Lido degli Estensi an, wo Lunau wohnte. Joy hatte inzwischen die Brücke erreicht, die über den Kanal führte. Sie überquerte die Brücke, bog von der Straße ab und verschwand auf einem Gewerbehof. Lunau folgte ihr, kam durch ein großes Schiebetor, das offen stand, und fand sich auf einem geschotterten Hof wieder. An dessen Ende lag eine große Halle, aus der ein kühler Lufthauchzog. Lunaus Fußsohlen brannten, er japste und fragte sich, ob er wirklich so gut in Form war wie gedacht.
Er sah sich um: ausgebrannte Autowracks und Eisenschrott. Keine Spur von dem Mädchen. Kein Laut. Sie musste in die Halle geflohen sein. Zögerlich trat Lunau ein. Der Betonboden war kalt, kein Licht brannte, man hörte nur ein helles, vielstimmiges Klappern auf Blech. Lunaus T-Shirt klebte am Rücken. Es dauerte eine Weile, ehe er im Zwielicht etwas erkennen konnte. Das Gebäude schien einst eine Montagehalle gewesen zu sein. Ähnlicher Schrott wie auf dem Vorplatz lagerte auch im Innern und schwitzte einen Geruch von Altöl, verbranntem Kunststoff und Fisch aus. Aber das war nicht der typische faulige Geruch von Trawlern. Es roch nach gekochtem Fisch. Immer intensiver. Metall klimperte, Badelatschen schlurften über den Boden. Ein Dutzend Schwarzafrikaner saßen auf den Metallteilen und löffelten Essen aus Blechgefäßen. Eine übergewichtige Frau stand in einer Ecke und kratzte in einem Topf.
»Hier ist eben ein Mädchen hereingekommen«, sagte Lunau. Niemand nahm Notiz von ihm. »Es heißt Joy. Wo ist sie?«
Neben Lunau saß ein hagerer junger Mann, der mit seinem Löffel aufreizend oft über den Rand seines leeren Napfes kratzte. Lunau fasste ihn an der Schulter und sagte: »Joy. Du kennst sie doch. Sie versteckt sich hier, aber sie braucht vor mir keine Angst zu haben. Ich will ihr helfen.«
Der Mann schüttelte mit einer unwirschen Geste Lunaus Hand ab und sagte: »Niente capito. Italiano niente.« – »Nichts verstehen, nichts Italienisch.«
Lunau sah ihm direkt in die Augen. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht mit breiter Nase. Seine schwarzen Locken waren zu einem leicht ondulierten Helm getrimmt. Er mochte dreißig sein.
»Kommst du aus dem Senegal?«, fragte Lunau. »Wie heißt du?«
Kopfschütteln. »Niente capito. Italiano niente.« Lunau ging zum nächsten und bekam dieselbe Antwort. Es war klar, dass man ihn auf den Arm nahm. Zwischen den essenden Männern lagen große Müllsäcke mit gefälschten Markenhandtaschen, Badetüchern, Hüten und Schmuck. Offensichtlich war das eine Brigade fliegender Händler, der sogenannten Vu cumpra ’ . Lunau schritt die Runde ab und wandte sich dann der Köchin zu. Sie hatte sich mit dem großen Holzlöffel die letzten Reste in den Mund geschoben und setzte jetzt Spülwasser auf einen Gaskocher. Sie hatte ein breiteres Gesicht, gröbere Züge.
»Kommen Sie aus Nigeria?«, fragte Lunau.
Sie antwortete nicht.
»Wo ist Joy? Ich will ihr helfen.«
Die Frau fügte dem Wasser einen Spritzer Spülmittel hinzu und schlug mit der Hand Schaum auf. Da niemand ihn daran hinderte, ging Lunau durch den aufgetürmten Schrott. In einer Art Gasse, die man entlang der Wände freigelassen hatte, standen Metallpritschen mit bunten Decken und Schlafsäcken. Lunau fandeinen Hinterausgang und verließ die Halle. Fliegen surrten im Gebüsch, es roch nach Exkrementen. Er ging einen Trampelfad entlang, zwischen den Gerippen von Fischkuttern hindurch. Er stieg über eine Begrenzungsmauer, auf der ein vom Rost zerfressener Maschendrahtzaun hing. Dahinter begann der Dünengürtel, der bis zum Strand reichte. Dies war einer der wenigen wilden Abschnitte, die nicht an Strandbetreiber verpachtet waren. Es gab hier keine Bars, keine Sonnenschirme im Spalier. Die
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