Der Tote am Steinkreuz
haben, wie man sich mit Móen verständigt?«
Gadra sah ihn an und schüttelte den Kopf.
»Du denkst praktisch, Angelsachse. Doch die Antwort lautet, daß nur Teafa die Geduld besaß, es von mir zu lernen. Vielleicht hat sie versucht, es weiterzugeben, ich glaube das aber nicht. Ich meine, sie hielt es für besser, wenn es ein Geheimnis bliebe.«
»Warum?«
»Die Antwort darauf hat sie mit ins Grab genommen.«
Gadra erhob sich, und Fidelma folgte seinem Beispiel.
»Ich habe kein Pferd«, sagte der Alte, »deshalb kann es eine Weile dauern, bis ich den rath von Araglin erreiche.«
»Du kannst entweder hinter Dubán oder hinter Bruder Eadulf aufsitzen. Das ist kein Problem.«
»Dann reite ich hinter Bruder Eadulf«, erklärte er. Eadulf holte die Pferde, und Gadra sprach leise mit Fidelma.
»Dein Eadulf spricht unsere Sprache gut.«
Sie errötete.
»Er ist Gast in unserem Land, ein angelsächsischer Mönch, der an unseren Hochschulen studiert hat.« Sie hielt inne und fügte leise hinzu: »Und er ist nicht mein Eadulf.«
Die lustigen hellen Augen blickten sie plötzlich fragend an.
»In deiner Stimme liegt Wärme, wenn du von diesem Angelsachsen sprichst.«
Fidelma spürte, wie ihre Wangen noch röter wurden.
»Er ist mir ein guter Freund«, erklärte sie abwehrend.
Gadra sah sie durchdringend an.
»Verleugne niemals deine Gefühle, mein Kind, vor allem nicht vor dir selbst.«
Der Alte verschwand in seiner Hütte, ehe Fidelma etwas antworten konnte. Einen Augenblick ärgerte sie sich, doch dann mußte sie lächeln. Ob er nun ein Heide war oder nicht, die Offenheit und die Weisheit des Alten gefielen ihr. Sie wandte sich um und traf auf Dubáns forschenden Blick.
»Wie ich sehe, magst du den Alten trotz eurer religiösen Unterschiede.«
»Vielleicht sind die Unterschiede gar nicht so groß, wenn wir die Bezeichnungen, die wir verwenden, einmal weglassen. Wir stammen alle von denselben Ahnen ab.«
»Vielleicht.«
In dem Moment kam der alte Mann zurück mit seinem Reisemantel und einem sacculus, einer Schultertasche, in der er offensichtlich alles verstaut hatte, was er für die Reise brauchte.
»Sag mir, mein angelsächsischer Bruder«, fragte er, während ihm Eadulf aufs Pferd half, »mein alter Gegner Gormán hält sich wohl immer noch im rath auf?«
»Pater Gormán ist Priester in Araglin.«
»Na, mein Vater ist er nicht«, brummte Gadra. »Ich habe nichts dagegen, irgend jemanden meinen Bruder oder meine Schwester zu nennen, aber es gibt nicht viele auf dieser Erde, denen ich das Recht zubillige, sich von mir als Vater anreden zu lassen, besonders nicht einem Mann, dessen Intoleranz an seiner Seele frißt wie ein Wurm.«
Bei dieser heftigen Antwort des Alten wechselte Eadulf einen Blick mit Fidelma, doch seine Belustigung fand bei ihr kein Echo. Sie blieb ernst.
»Mach dir keine Sorgen wegen Gormán«, erklärte sie dem Alten und schwang sich in den Sattel. »Du kommst mit meiner Ermächtigung in den rath von Araglin.«
Gadra lachte.
»Jeder ermächtigt sich selber, Fidelma«, sagte er.
Sie traten den Rückweg durch die großen Bergwälder an. Wie in wortloser Übereinstimmung schwiegen sie, man hörte nur das Schnauben der Pferde auf dem Waldweg. Selbst aus den Wäldern kam kein Laut, obwohl es über dem düsteren Blätterdach noch taghell war.
Fidelma ritt mit gesenktem Kopf und tief in Gedanken. Sie versuchte zu ergründen, wie der Alte oder auch Teafa sich mit einem so stark behinderten Menschen wie Móen verständigen konnten. Nach einer Weile gab sie es auf. Es genügte ihr, daß Gadra gesagt hatte, er könne es, denn sie ging davon aus, daß er die Wahrheit sprach. Sagten nicht die Weisen der Vorzeit, daß die Wahrheit die Erde erhält und uns von unseren Feinden befreit?
Sie blickte sich nach Eadulf um und fragte sich, woran er wohl dachte. Es mußte ihm unbehaglich sein in der Nähe eines Menschen, der den neuen Glauben ablehnte und dem Glauben der Ahnen anhing. Gadra hatte Eadulf treffend charakterisiert: Er war praktisch – sachlich und pragmatisch. Er nahm die Lehre an, die man ihm beibrachte, und dabei blieb er, und er wich von dieser Lehre nicht ab und stellte sie nicht in Frage. Er war wie ein schwerfälliges Schiff, das stetig den Ozean durchfurchte. Im Vergleich dazu war sie eine leichte Barke, die hin und her über die Wellen tanzte. Tat sie ihm damit Unrecht? Plötzlich fiel ihr ein Zitat aus Hesiod ein: Bewundere das kleine Schiff, aber bringe deine Ladung in das
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