Der Tote am Steinkreuz
von vielen Lebensjahren.
Fröhlich schaute er sie an.
»Du bist hier willkommen, Fidelma, Tochter Failbe Flanns.«
Fidelma war überrascht.
»Woher weißt du …?«
Bei seinem Lachen ging ihr ein Licht auf, sie lächelte verlegen und zuckte die Achseln.
»Was hat dir Dubán sonst noch alles erzählt?«
Gadra nickte befriedigt.
»Du hast einen hellen Kopf, Fidelma.« Er blickte über die Schulter dorthin, wo Eadulf die Pferde anband. »Komm her, Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham. Komm näher und setz dich zu uns, dann können wir uns unterhalten.«
Fidelma erinnerte sich an die Zeit, als sie junge Schülerin beim Richter Morann von Tara war, und ließ sich vor dem Alten mit gekreuzten Beinen im Gras nieder wie eine Novizin vor dem Lehrer. Gadra lächelte geschmeichelt. Bruder Eadulf setzte sich etwas unbeholfen auf einen runden Stein in der Nähe und fand die Sitzfläche recht unbequem. Dubán glaubte anscheinend auch, es wäre seiner Würde abträglich, wenn er sich auf die Erde setzte, und suchte sich einen anderen Stein. Gadra hockte sich jugendlich leicht ebenfalls im Schneidersitz Fidelma gegenüber hin.
»Bevor wir reden«, begann Gadra und berührte mit dem Finger den Goldring vor seiner Brust, »stört dich dies hier?«
»Warum sollte mich das stören?« fragte Fidelma.
Gadra wies auf ihr Kruzifix.
»Steht es nicht im Gegensatz zu dem da?«
Fidelma schüttelte langsam den Kopf.
»Dein Halbmond war jahrhundertelang bei unserem Volk das Symbol des Lichts und des Wissens. Ich brauche ihn nicht zu fürchten. Warum sollte ich daran Anstoß nehmen?«
»Viele Anhänger des neuen Glaubens nehmen aber daran Anstoß.«
Eadulf war es unbehaglich in Gegenwart eines Menschen, der das Symbol eines heidnischen Glaubens trug.
»Du hast den Glauben an Christus nicht angenommen?« wollte er wissen.
Gadra sah ihn an und lächelte leicht.
»Ich bin ein alter Mann, mein angelsächsischer Bruder. In mir sterben die uralten Götter und Göttinnen unseres Volkes nur langsam. Dennoch gönne ich euch eure neue Lebensweise, eure neuen Gedanken und eure neuen Hoffnungen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß das Alte stirbt und das Neue lebt. Das ist eine Gefahr für diese Welt und zugleich ein Segen. Das ist das Wesen der Kinder der Göttinmutter Danu. Das Leben stirbt und wird neu geboren. Das Leben wird neu geboren und stirbt. Es ist ein unendlicher Kreislauf. Die alten Götter sterben, die neuen Götter werden geboren. Die Zeit wird kommen, da auch sie sterben und wieder neue Götter entstehen werden.«
Fidelma merkte, daß Gadras Worte Eadulf empörten, und sie sagte hastig: »Wir alle sind Gefangene unserer Zeit.«
Gadra lachte zustimmend.
»Du besitzt Einsicht, Fidelma. Oder ist es nur Empfänglichkeit? Kannst du mir sagen, was schneller ist als der Wind?«
»Der Gedanke«, antwortete Fidelma sofort. Sie kannte das Spiel, das der Alte begann.
»Ach ja. Und was ist weißer als Schnee?«
»Die Wahrheit«, erwiderte sie.
»Was ist schärfer als ein Schwert?«
»Der Verstand.«
»Dann verstehen wir uns gut, Fidelma. Ich bin ein Hort des Alten, und wenn ich nicht mehr bin, wird vieles mit mir verlorengehen. Aber das ist der Lauf der Welt. Deshalb habe ich mich in den Wald zurückgezogen, um zu sterben.«
Fidelma schwieg einen Moment.
»Hat Dubán dir berichtet, was in Araglin geschehen ist?«
»Er hat mir gesagt, wer ihr seid. Das und weiter nichts. Daß du etwas von mir willst, ist mir klar.«
»Eber, der Fürst von Araglin, ist ermordet worden.«
Gadra schien nicht überrascht.
»Zu meiner Zeit hat man den Tod einer Seele in dieser Welt gefeiert, denn es bedeutete, daß die Seele in der anderen Welt wiedergeboren wurde. Es war Sitte, eine Geburt zu betrauern, denn es bedeutete, daß eine Seele in der anderen Welt gestorben war.«
»Der Tod Ebers geht mich näher an, Gadra, denn ich bin eine Anwältin bei Gericht in den fünf Königreichen.«
»Verzeih, wenn ich als Philosoph gesprochen habe. Natürlich macht es etwas aus, auf welche Weise jemand in die andere Welt gegangen ist. Ich nehme an, daß jetzt Muadnat Fürst von Araglin ist?«
Fidelma starrte ihn verblüfft an.
»Crón ist Tanist und wird Fürstin, wenn die derbfhine ihrer Sippe sie bestätigen.«
Gadra gab ihr einen schrägen Blick zurück, sprach aber nicht weiter von Muadnat.
»Eber ist also tot? Ermordet? Und du, mein Kind, bist eine dálaigh und führst die Untersuchung?«
Ausnahmsweise machte es Fidelma nichts aus, daß jemand
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