Der Tote im Schnee
Glas eingeschenkt. Er hätte eigentlich schlafen sollen. Er hätte seine Frau lieben und mit ihr schlafen sollen, aber er begriff, daß sie zuerst anfangen mußten, miteinander zu reden.
Haver wählte Lindells Nummer. Nach vier Klingelzeichen schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sein Versuch, sie auf dem Handy zu erreichen, endete mit dem gleichen Resultat. Er sprach auf die Mailbox, daß sie ihn zurückrufen solle.
Warum hatte sie bei ihm angerufen? Und warum ging sie jetzt nicht an den Apparat? Es war ungewöhnlich, daß sie nicht erreichbar war. Ihr Anruf am gestrigen Abend mußte mit der Arbeit zusammenhängen. Sie hätte niemals bei ihm zu Hause angerufen, um mit ihm darüber zu sprechen, was zwischen ihnen vorgefallen war. Was war eigentlich geschehen?
Ottosson wollte, daß sie sich in zehn Minuten zu einer Besprechung trafen. Staatsanwalt Fritzén sollte auch dabei sein. Haver rief noch einmal bei Lindell an und hinterließ eine weitere Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Ottosson begann mit dem, was alle empfanden, sprach über Jan-Erik und die Gefahr, der sie alle sich immer wieder aussetzten, aber auch über die zahlreichen Blumen und Beileidsbezeugungen, die sie von der Bevölkerung erreichten.
Weil Weihnachten vor der Tür stand, schien den Leuten besonders daran zu liegen, ihre Anteilnahme zu zeigen. Liselotte Rask leiste großartige Arbeit, teilte Ottosson ihnen mit. Wie ein Fels in der Brandung stand sie im Foyer, begegnete allen mit einem Blick und Worten, die selbst die aufdringlichsten Journalisten zum Verstummen brachten.
Dann betrachtete der Kommissariatsleiter das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel.
»Jetzt können wir erahnen, was Berit Jonsson empfindet«, sagte er, und zumindest der Staatsanwalt stutzte bei seinen Worten ein wenig, aber Ottosson fuhr unverdrossen fort:
»Der Tod trifft uns alle, das ist das einzig sichere im Leben. Wenn jemand durch die Hand eines Fremden umkommt, spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Dieb auf einer Schneekippe oder einen Polizeibeamten im Dienste der Allgemeinheit handelt. Der Schmerz für die Angehörigen ist der gleiche.«
Haver fragte sich, wie nahe der kleine John Ottosson eigentlich gestanden hatte. Vivan Molin, die erwürgt und dann brutal unter ihr Bett geschoben worden war, erwähnte sein Chef jedenfalls mit keinem Wort.
»Das ist wahr«, unterbrach Berglund den Kommissariatsleiter, und die Augen aller Anwesenden richteten sich auf den Veteranen, der bei ihren Besprechungen nur selten das Wort ergriff. Berglund zögerte einen Moment, sprach dann jedoch weiter. »Wir müssen einfach besser werden«, sagte er.
»Wir alle. Niemand sollte so sterben müssen wie Jan-Erik, Vivan Molin oder der kleine John, da sind wir uns einig. Wir produzieren die Mörder.«
Seine Worte wogen schwer. Ottosson hob die Augenbrauen. Fritzén machte ein beleidigtes Gesicht.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Staatsanwalt.
»Ich glaube nicht, daß jetzt der richtige Zeitpunkt für selbstgestrickte Theorien über die Frage der Schuld und die Unzulänglichkeit der Gesellschaft ist.«
»Dafür muß immer Zeit sein«, widersprach Berglund, nun jedoch in einem ruhigeren Ton. »Es ist unser Job, und wir sind dazu verpflichtet, uns unablässig die Frage zu stellen, was wir hätten tun können, um diese Dinge zu verhindern.«
Der Staatsanwalt machte erneut Anstalten, Berglund zu unterbrechen, aber da meldete sich hüstelnd Lundin zu Wort.
»Ich möchte gerne hören, was Berglund zu sagen hat«, erklärte er.
»Ich war noch mal bei Oskar Pettersson in der Marielundsgatan, der den kleinen John und seine Eltern gekannt hat. Er ist ein kluger Mann«, sagte Berglund und sah Fritzén an.
»Wir sprechen die gleiche Sprache. Die meisten von euch sind nicht von hier, obwohl sich die Frage in ganz Schweden gleich stellt, aber darüber hinaus seid ihr auch noch zu jung. Es gibt eine Bildung jenseits von Schule und Universität, für die Menschen wie Oskar Pettersson stehen. Ich glaube, dort, wo John aufgewachsen ist, existierte früher ebenfalls eine solche Bildung, die dem heutigen Wahnsinn entgegentrat. Natürlich gab es auch in den fünfziger und sechziger Jahren Gesindel, aber gleichzeitig einen Widerstand dagegen, an dem es heute fehlt.«
»Was denn für einen Widerstand?« wollte Sammy wissen.
»Zum einen bei den einfachen Leuten, aber auch bei den Regierenden«, antwortete Berglund.
»Schweden ist nicht mehr wie früher«, meinte Riis,
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