Der Tote im Schnee
Rose auf der Erde wuchs nicht mehr. Marias Hand ruhte auf der Brust ihres Kollegen. Die zweite suchte nach dem Handy. Nach einem kurzen Telefonat streckte sie sich nach dem Messer, das Vincent von sich geworfen oder einfach verloren hatte.
»Sie hat eine Pistole«, schrie ein kleiner Junge.
Vincent schaute Maria träge an. Etwas weiter weg lachte jemand laut, und ein Taxifahrer hupte gereizt, ansonsten herrschte Stille. Nach einigen Sekunden hörte man ein Martinshorn.
Maria Svensson-Flygt hatte ihren Kollegen sehr gemocht. Zwei Jahre lang hatten sie zusammen Dienst getan. Sie haßte den Mann an der Wand, und ihr wurde klar, wenn sie allein auf der Straße gewesen wäre, ohne starrende Zeugen, hätte sie ihn in den Schädel geschossen.
Sie ahnte, daß es sich um Vincent Hahn handelte, nach dem seit dem Vormittag wegen des Mordes an einer Frau in Johannesbäck gefahndet wurde, auch wenn er dem Foto, das sie von ihm gesehen hatte, nur noch entfernt ähnelte.
31
Im Polizeipräsidium trauerten die Beamten um ihren Kollegen. Einige weinten, andere waren zerknirscht und wortkarg. Ihre Gedanken waren bei Jan-Eriks Frau und seinen Kindern und vermischten sich mit der schwindelerregenden Erkenntnis: Es hätte ebensogut mich treffen können. Doch das sagte niemand, denn es wäre einem geachteten Arbeitskameraden gegenüber unkollegial gewesen. Dennoch war der Gedanke da, unausgesprochen stärkte er ihren Zusammenhalt. Sogar die Worte des Polizeichefs auf der kurzen Versammlung wirkten ehrlich. Als er mit seiner etwas trockenen Stimme, die normalerweise so uninspiriert klang, das Wort ergriff, entdeckten die Beamten eine ganz neue Seite an ihm. Er sprach leise, ohne große Gesten, und verließ das Podium unerwartet schnell und mit schweren Schritten. Lähmende Stille breitete sich aus.
Ein Mann mittleren Alters, dessen Gesicht vielen bekannt vorkam, trat ans Rednerpult.
Es war der Krankenhausseelsorger, der sich zufällig wegen einer privaten Angelegenheit im Polizeipräsidium aufgehalten hatte, als die Nachricht vom Tod des Polizisten einging. Liselotte Rask, die Pressesprecherin, kannte ihn von früher und hatte ihn gebeten zu bleiben, bis sie eine Krisenbewältigungsgruppe zusammengestellt hatten.
Ola Haver lauschte den Worten des Geistlichen, ließ sie in sein benebeltes Bewußtsein dringen.
Fredriksson saß mit gesenktem Kopf neben ihm, als würde er beten. Da er als erster mit Gunilla Karlsson gesprochen hatte, war er automatisch der Beamte gewesen, der informell die Fahndung nach Vincent Hahn geleitet hatte. Nun war Hahn gefaßt worden, aber zu welchem Preis?
Nach der Versammlung schaltete Haver sein Handy wieder ein. Wenige Sekunden später gab ein Ton ihm zu verstehen, daß jemand eine Nachricht hinterlassen hatte. Es war Rebecka. Haver hörte, daß sie sich Mühe gab, mit normaler Stimme zu sprechen. Sie bat ihn um Rückruf.
Er rief zu Hause an, und Rebecka hob sofort ab.
»Oh, mein Gott«, sagte sie. »Gott sei Dank.«
»Was ist los?«
»Ich habe es im Radio gehört«, erklärte Rebecka.
»Es war ein Kollege von der Schutzpolizei, ich glaube nicht, daß du ihn kennst.«
»Hatte er Frau und Kinder?«
»Ja, ein Mädchen und einen Jungen. Acht und vier Jahre alt.«
»Das ist so beschissen«, sagte Rebecka, die nur selten fluchte.
»Ich muß los«, erwiderte er.
»Du, Ola, bist du auch vorsichtig?«
»Natürlich, das weißt du doch.«
»Ich möchte …«, setzte Rebecka vorsichtig an, aber Haver unterbrach sie.
»Ich muß los. Bis später«, sagte er.
Er beendete das Gespräch mit gemischten Gefühlen. Einerseits rührte ihn ihre Besorgnis, andererseits war er wütend auf sie. Sie hatten sich heftig gestritten, als er gestern abend nach Hause gekommen war. Rebecka hatte sich darüber aufgeregt, daß Ann Lindell ihren Namen nicht genannt hatte, als sie anrief, aber Haver war klar gewesen, daß dies nicht der eigentliche Grund für ihre Wut war.
Es war recht spät gewesen, als sie endlich ins Bett gegangen waren, und er hatte noch lange wach gelegen. Rebecka hatte sich unruhig im Bett hin und her gewälzt, geseufzt und immer wieder ihr Kissen zurechtgedrückt. Es war so vieles ausgesprochen worden, und doch so viel mehr unausgesprochen geblieben. Um drei war er aus dem Schlafzimmer geschlichen und hatte sich eine Weile in die Küche gesetzt. Die Weinflasche hatte noch auf dem Tisch gestanden. Das sah Rebecka nicht ähnlich, die ihre Sachen sonst immer wegräumte. Haver hatte sich ein halbes
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