Der Tote im Schnee
gezogen. Unzufrieden hatte er ihren Körper getreten, ihn unter das Bett geschoben.
John war durch ein Messer gestorben. »Wiederholte Messerstiche« hatte es in der Zeitung geheißen. Vincent ahnte, daß Johns Blick ebenso verängstigt gewesen war wie der von Gunilla und Vivan. Hatte er vielleicht einen Helfer, eine stumme Kraft, die ihn rächte, ohne daß er davon wußte, oder war er selber dabeigewesen? Er wurde immer unsicherer. Auch früher hatte er gelegentlich Gedächtnislücken gehabt, nicht zuletzt in Augenblicken der Erregung. War er dabeigewesen und hatte das Messer in Johns Körper gestochen?
Wie üblich blieb er auf der Nybron stehen und starrte auf das Wasser des Fyris hinab. Trotz der strengen Kälte während des ganzen Dezembers war der Fluß nicht ganz zugefroren. Vincent Hahn verweilte ein paar Minuten, ehe er die Brücke überquerte. Erneut hatte er das Gefühl, nicht in seiner Heimat, sondern in einem anderen Land zu wandern, in dem niemand, dem er begegnete, ihn kannte, wo die Gebäude von fremden Händen errichtet worden waren und sogar die Worte ihm nichts mehr sagten. Er achtete auf die Menschen, denen er begegnete, und versuchte etwas aus ihren Augen herauszulesen, aber die meisten sahen schnell weg oder waren mit sich selber beschäftigt.
Er hob die Hand und überquerte unverzüglich die Straße, ohne sich darum zu scheren, daß es glatt war und die Autos nur schlecht bremsen konnten. Jemand schrie ihn an, mit Worten, die er nicht verstand. Sie waren wütend auf ihn, das sah er. Er zog ein Messer heraus, das er aus Vivans Wohnung mitgenommen hatte. Ein paar Jugendliche schrien auf, machten auf dem Absatz kehrt und liefen davon.
Er wiederholte sein Manöver, trat einfach auf die Straße hinaus. Ein Auto wurde zu einer Vollbremsung gezwungen, rutschte seitlich weg und wäre fast mit einem stehenden Taxi zusammengestoßen. Der Taxifahrer stieg aus und schrie ihm etwas hinterher. Vincent fuchtelte mit dem Messer.
Er ging zum Sankt Eriks torg. Dort verkaufte ein älteres Paar Weihnachtsschmuck und Adventskränze. Er stellte sich an den Stand und betrachtete das glitzernde Zeug. Sie hatten nicht viel Zulauf und sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ich habe kein richtiges Zuhause«, sagte Vincent.
»Gucken kostet nichts«, meinte die Frau.
Ihr Mann, der eine riesige Pelzmütze trug, zog einen Lederhandschuh aus, nahm eine Tüte mit hausgemachten Bonbons vom Tisch und hielt sie Vincent hin.
»Ich habe auch kein Geld«, sagte Vincent.
»Nehmen Sie, etwas Süßes wird Ihnen gut tun«, erwiderte die Frau. »Es sind verschiedene Geschmackssorten.«
Der Mann nickte. Seine Hand, mit der er die Tüte umfaßte, zitterte ein wenig. Vincent betrachtete die klobige Hand. Die blauschwarzen Adern auf dem Handrücken bildeten ein kraftvolles Muster. Die Fingernägel waren dick, stark gebogen und ein wenig gelblich.
»Er hat einen Schlag gehabt«, erklärte die Frau. »Er kann nicht sprechen.«
Vincent nahm die Tüte entgegen und stand einen Moment lang schweigend da.
»Das ist das schönste, was ich je bekommen habe«, sagte er.
Die Frau nickte. Ihre Augen waren grünblau und ein schwacher Grauschleier lag auf der Hornhaut. Abgesehen von ein paar Leberflecken auf einer Wange war ihre Haut jugendlich glatt. Vincent dachte, daß sie in ihrem Leben sicher viel gelacht hatte.
Ein jüngeres Paar trat an den Verkaufsstand und schaute sich die gebundenen Kränze an.
»Die haben sehr leckere Bonbons«, meinte Vincent.
Die junge Frau blickte kurz auf und lächelte.
»Wir nehmen den hier«, sagte sie und hielt einen Kranz aus Preiselbeerreisig hoch.
Vincent entfernte sich von dem Stand und ließ sich ziellos – und von einer immer größer werdenden inneren Leere erfüllt – treiben. Er hatte das Gefühl, von einem inneren Wirbelsturm erfaßt und immer weiter in sich selber hinabgezogen zu werden.
Er versuchte etwas zu sagen, und es hallte in seinem Kopf. Von Zeit zu Zeit wurde ihm schwindlig. Er aß noch ein Bonbon und blieb vor einem Schaufenster mit Artikeln für ein erfüllteres Sexualleben stehen. Die Leute gingen ungeniert im Laden ein und aus, schleppten bunte Pakete, schauten ihn an und lächelten.
Wohin sollte er nur gehen? Seine Beine trugen ihn kaum noch. Die Bonbons schenkten ihm zwar ein wenig Energie, aber ganz gleich, wohin er seine Schritte lenkte, er wurde mit immer neuen Hindernissen konfrontiert. Es waren immer mehr Leute auf den Bürgersteigen unterwegs, das Gedränge wurde schlimmer,
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