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Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Eriksson
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wußte, wie leicht man sich in so etwas täuschen konnte. Sogar Kinder, die einen Wutanfall bekamen, vermochten ungeahnte Kräfte freizusetzen. Sie hatten auf der Arbeit über Selbstverteidigung gesprochen, und eine ihrer Kolleginnen hatte einen Kurs besucht. Gunilla wußte, daß sie eine Chance hatte, sofern sich ihr eine Gelegenheit bot. Kein Mensch war unverletzbar.
    »Wenn du mich deine Brüste sehen läßt, gehe ich wieder.«
    Er sieht müde aus. Nimmt er vielleicht Medikamente?
    »Dann gehe ich«, wiederholte er und beugte sich vor, so daß sie den sauren Atem aus seinem Mund roch. Sie gab sich alle Mühe, ihren Ekel zu verbergen.
    Worüber soll ich reden?
    »Zieh den Pullover aus!«
    »Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.«
    »Sonst lege ich dich auf die Erde.«
    Sie stand auf. Plötzlich tat ihr der Mann leid. In der Schule war er immer das Kind gewesen, auf das die übrigen Schüler herabblickten, das sie als Außenseiter betrachteten, eine seltsame Type, die Unsicherheit ausstrahlte.
    Es hatte ihm nicht an Freunden gefehlt, und er hatte alle Schuljahre problemlos geschafft. Vor etwa einem Jahr, als sie in dem Schulbuch mit den Fotos der einzelnen Klassen geblättert hatte, war ihr Blick auf die magere Gestalt von Vincent gefallen. Damals hatte sie gedacht, daß er sich auf eigenartige Weise während der gesamten Mittelstufe nicht verändert hatte – schmächtig, pickelig und scheinbar unbeeinflußt von all den Gefühls- und Hormonstürmen, die in seinen Klassenkameraden tobten, nicht zuletzt den Jungen. Er war einfach nur dagewesen, aufmerksam den Lehrern gegenüber, manchmal hochmütig im Umgang mit Gleichaltrigen, aber meistens unterwürfig und darauf bedacht, es allen recht zu machen.
    »Ich muß etwas trinken«, sagte sie. »Ich habe solche Angst. Möchtest du ein Glas Wein?«
    Er sah sie mit vollkommen ausdrucksloser Miene an. Sie fragte sich, ob er ihre Worte verstanden hatte.
    »Möchtest du ein Glas Wein?«
    Er packte sie, als sie versuchte an ihm vorbeizugehen. Ihr schmerzte der Arm. Er zog sie an sich, aber es gelang ihr, auf den Beinen zu bleiben.
    »Laß mich los. Ich möchte nur ein bißchen Wein trinken. Dann darfst du meine Brüste sehen.«
    Zeige keine Angst, dachte sie. Der Gedanke an das erdrosselte Kaninchen mit dem aufgeschlitzten Bauch ließ sie schluchzen. Sie zog den Pullover aus und sah, wie durch Vincent beim Anblick ihres Oberkörpers ein Zittern lief.
    »Okay, ein Glas«, sagte er und lächelte.
    Er war dicht hinter ihr. Sie konnte seine Körperwärme spüren. Er atmete gepreßt. Die Flasche klirrte gegen das Weinregal. Das Geräusch schien ihn zu stören, denn plötzlich umklammerte er ihre Schulter, so wie Martin es immer getan hatte, wenn sie Schmerzen in Nacken und Schultern hatte, aber dieser Griff war wesentlich fester, und er drehte sie um.
    »Du erinnerst dich nicht an mich, was?«
    »Doch, sicher«, erwiderte sie, »aber du hast dich verändert.«
    »Genau wie du.«
    Gunilla befreite sich von seiner Hand und zog den Korkenzieher vom Haken an der Spüle. Vincent Hahn stand direkt neben ihr. Seine säuerlichen, übelriechenden Ausdünstungen drangen in jede Ecke der Küche, und es fuhr ihr durch den Kopf, daß sie die Küche nie mehr sauber bekommen würde.
    »Magst du Rotwein?« fragte sie und hielt die Flasche hoch.
    Der Schlag kam völlig unerwartet, für Vincent wie für sie selber. Alles geschah reflexartig wie bei einem Tier, das sich instinktiv verteidigt.
    Die Flasche traf ihn an Schläfe und Stirn; Wein spritzte in einer Kaskade über die ganze Küche. Gunilla vollendete die Attacke, indem sie mit dem Korkenzieher auf seine Brust einstach.
    Vincents Gesicht verzerrte sich vor Überraschung und Schmerz. Er schwankte, tastete über den Küchentisch und fand Halt an einer Stuhllehne. Er glitt zu Boden und zog im Fallen den Stuhl mit. Wein und Blut vermischten sich.
    Gunilla blieb sekundenlang wie gelähmt stehen, die zerbrochene Flasche in der rechten, den Korkenzieher in der linken Hand, vorgebeugt, angespannt, auf einen Gegenangriff gefaßt, doch der Mann zu ihren Füßen rührte sich kaum. Die Blutlache auf dem Fußboden wuchs wie eine dunkle Rose. Der Blutgeruch vermischte sich mit dem schweren Aroma des Rioja.
    Seine Beine zuckten, ein schwaches Röcheln war zu hören, und er schlug die Augen auf.
    »Du dreckiges Schwein«, sagte sie und senkte die Flasche zu seinem Gesicht, ließ die scharfkantige Waffe jedoch plötzlich los und lief aus der Küche, bekam

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