Der Tote im Schnee
die Haustür auf und stürzte in die Dezemberdunkelheit hinaus.
Kälte schlug ihr entgegen. Sie rutschte im Schnee aus, rannte jedoch weiter. Ihr Schrei hallte über den ganzen Hof. Die Nachbarn sagten hinterher, sie habe geklungen wie ein verletztes und verängstigtes Tier in der Nacht.
Åke Bolinder, der in dem freistehenden Mietshaus wohnte und gerade seinen Schäferhund von der Leine gelassen hatte, war als erster vor Ort. Als er im Laufschritt um die Ecke der Waschküche bog, erblickte er eine Frau, die auf die Erde sank. Er erkannte auf der Stelle Gunilla Karlsson. Zwar kannte er sie nicht besonders gut, aber er war ihr bei Mieterversammlungen und vielleicht auch ein-, zweimal im Supermarkt begegnet.
Er beugte sich über sie, roch den Weindunst, der von ihrem Körper ausging und registrierte ihren krampfhaften Griff um den Korkenzieher. Er befahl dem Hund, sitz zu machen, beugte sich erneut über sie und war sich nicht sicher, was er tun sollte. Er schaute zur sperrangelweit offenstehenden Tür ihrer Wohnung hinüber.
Bolinder war ein friedlicher Mann um die Fünfzig, Junggeselle und sehr auf seine äußere Erscheinung bedacht. Er starrte auf Gunillas Brüste herab, auf den schwarzen BH, der sich scharf vom Schnee absetzte, fiel auf die Knie und strich ein wenig von den Haaren zur Seite, die ihr Gesicht verbargen. Was ist, wenn sie sich übergibt, dachte er und schreckte zurück. Doch ihr Gesichtsausdruck strahlte beinahe so etwas wie innere Ruhe aus. Weiter weg hörte man Laufschritte, eine Balkontür wurde geöffnet, und eine Stimme rief etwas, das er nicht verstehen konnte.
Der Hund, der gehorsam einen Meter neben ihm saß, begann zu knurren. Bolinder sah auf und folgte dem Blick seines Hundes. In der Türöffnung tauchte ein Mann auf, dessen Gesichtszüge schmerzverzerrt und haßerfüllt waren. Bolinder hörte ihn keuchen.
Jupiter, der Schäferhund, schlug an. Bolinder stand auf.
»Was ist passiert?« fragte er, und im gleichen Moment ging Jupiter zum Angriff über. Ob es nun die Furcht in der Stimme seines Herrchens war oder die Tatsache, daß der Mann in der Tür einen Schritt nach vorn machte, wußte Bolinder nicht, aber der Sprung des Hundes kam völlig unerwartet.
Nie zuvor hatte Jupiter versucht ihn zu beschützen, geschweige denn aggressive Tendenzen gezeigt. Er war ebenso friedlich wie sein Herrchen, beliebt bei allen Kindern der Siedlung. Jetzt stürzte er los, zähnefletschend und mit gesträubtem Fell.
Der Mann im Türrahmen wankte und schaffte es im letzten Moment, die Tür zu schließen. Bolinder sah, wie Jupiter zum Sprung ansetzte, und hörte den schweren Hundekörper gegen die Tür schlagen und anschließend auf die Erde fallen.
Blitzschnell war das Tier wieder auf den Beinen und bellte wütend. Bolinder rief seinen Hund, aber der nahm keine Notiz von seinem Herrchen. Die Frau bewegte sich langsam, und Bolinder beugte sich erneut über sie. Sie schlug die Augen auf und zuckte zusammen, als sie die Gestalt ihres Nachbarn erblickte, stützte sich auf den Ellbogen und starrte zu ihrer Wohnung und dem bellenden Hund hinüber.
»Er hat versucht, mich zu vergewaltigen«, sagte sie. Auf einmal wurde sie sich ihres fast nackten Oberkörpers bewußt, setzte sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Bolinder zog seine Jacke aus und legte sie ihr sanft über die Schultern.
Trotz des Schmerzes und der unerwarteten Wendung, die das ganze genommen hatte, war er geistesgegenwärtig genug gewesen, sich im Badezimmer ein Handtuch zu greifen und das Blut vom Kopf zu wischen. Er preßte das Handtuch gegen seinen pochenden Schädel, faßte sich an die Stirn und tastete vorsichtig die Platzwunde ab. Er glaubte nicht, daß sein Stirnbein gebrochen war, aber die Wunde sah übel aus. Die Flasche hatte ihn über der Augenbraue getroffen, und er begriff, daß von dort das viele Blut kam.
Der Korkenzieher hatte die Hemdbrust durchstochen und war einen Zentimeter tief ins Fleisch eingedrungen, dann jedoch gegen das Brustbein gestoßen. Vincent Hahn war nicht verwirrt, sondern eher verblüfft über Gunillas unerwartete Attacke. Er hatte geglaubt, sie in der Hand zu haben, aber sie hatte ihn reingelegt. Jetzt mußte er fliehen. Vom Hof vor dem Haus drangen das Bellen des Hundes und erregte Stimmen zu ihm herein. Er warf das blutverschmierte Handtuch auf die Erde, zog ein sauberes vom Haken, drückte es an den Kopf und verschwand auf dem gleichen Weg in der Dunkelheit, auf dem er auch gekommen
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