Der Tote im Schnee
war.
Er lief. Ihm wurde schwindlig, aber er lief weiter. Im Wald kannte er sich aus, und er wußte, wo die einzelnen Spazierwege verliefen. Wenn er den schnellsten Weg nach Hause einschlagen würde, wäre er schon in fünf, sechs Minuten daheim, aber er mußte einen Umweg durch den Wald nehmen, um Menschen aus dem Weg zu gehen.
Wo sollte er hin? Wie lange konnte er zu Hause bleiben, bis die Polizei bei ihm auftauchen würde? Gunilla hatte ihn wiedererkannt. Er war zwar in der Bergslagsresan nicht gemeldet, da er die Wohnung nur als Untermieter bewohnte, aber die Polizei würde unverzüglich anfangen herumzuschnüffeln und mit Sicherheit seine Adresse herausfinden; vielleicht durch das Krankenhaus oder seine ehemalige Schwägerin. Sie war die einzige, die ihn noch besuchte, seit er nach Sävja gezogen war.
Wer sollte ihn aufnehmen? Er hatte niemanden, der ihm Schutz geben, seine Wunden versorgen und ihn ausruhen lassen konnte. Und wer würde sich um Julia kümmern? Er schluchzte und lief stolpernd weiter. Er mußte zu ihr, der Polizei zuvorkommen. Niemand sollte Julia begrapschen dürfen. Er könnte sie im Wald verstecken. Dort würde sie zwar naß werden und frieren, aber das wäre immer noch besser, als in die Hände eines Polizisten zu geraten.
Er erreichte Bergsbrunna gård. Hier war er einmal bei einem Spaziergang vorbeigekommen und kannte sich aus. Hinter der Stallwand wieherten die Pferde. Er fror. Es mußten mindestens fünfzehn Grad unter Null sein. Die Wunde an der Stirn fühlte sich steif an. Ratlos stand er auf dem Hof neben dem Stall. Sollte er hineingehen? Gegen Pferde hatte er nichts. Es waren stattliche und kluge Tiere, aber es gab dort auch Katzen. Er hatte sie gesehen, eine weiße und eine hellbraune.
In der Ferne hörte er Hundegebell und begriff, daß die Polizei unter Umständen Hunde einsetzte, um ihn aufzuspüren. Dann würden sie ihn bald einholen. Der Stall bot ihm keinen Schutz.
Er lief zwischen zwei Weiden hindurch. Der Schnee war abseits des Weges tiefer, und er stapfte mühsam weiter. Seine Kräfte ließen nach, und er keuchte vor Anstrengung. Am Ende des Feldwegs glommen Lichter. Auf dem Platz vor dem Haus stand ein Weihnachtsbaum. Er hatte das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. In der Kälte um sein Leben rennen zu müssen, keine Freunde zu haben, sich nur auf sich selber verlassen zu können. Er hatte Stiche in der Brust.
Er stieß auf die Eisenbahnlinie und folgte den Gleisen in nördlicher Richtung. Gleich würde er den Bahnübergang erreichen. Er hatte von Landstreichern in den USA gehört, die auf Güterzüge aufsprangen und auf der Suche nach Arbeit durch den ganzen Kontinent reisten, aber hier donnerten die Züge in rasendem Tempo vorbei.
Unschlüssig blieb er stehen. Ein Auto näherte sich zwischen den Feldern auf der anderen Seite des Bahnübergangs. Die Lichter des Wagens warfen gelbe Strahlen über das Fußballfeld. Vincent lief zur Kreuzung und warf sich auf die Straße.
Das Auto kam näher. Es war ein Diesel, das hörte er am Motorengeräusch. Plötzlich traf ihn das Scheinwerferlicht. Er schloß die Augen, hob jedoch einen Arm wie ein Mensch in Seenot. Für einen Moment glaubte er. das Auto würde vorbeifahren, aber dann machte es eine Vollbremsung.
Die Autotür wurde aufgeschlagen, und ein Mann lief herbei.
»Was ist passiert?«
Vincent wimmerte.
»Ich bin angefahren worden.«
»Hier?«
Vincent stützte sich auf den Ellbogen und nickte.
»Von einem Auto. Es ist abgehauen. Können Sie mir helfen?«
»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte der Mann und holte sein Handy aus der Tasche.
»Nein, fahren Sie mich lieber ins Krankenhaus.«
Der Mann ging in die Hocke und begutachtete Vincent etwas genauer.
»Sie haben ordentlich was abbekommen.«
»Ich bezahle Sie.«
»Das ist nicht nötig, das wäre ja noch schöner. Können Sie gehen?«
Vincent kam mühsam auf alle viere. Der Mann half ihm beim Aufstehen und ins Auto.
Viro ließ sich für ein paar Sekunden von Jupiters Geruch verwirren, ehe er an der Leine zog. Der Hundeführer folgte ihm. Trotz der ernsten Situation mußte er lächeln, als er Viros Eifer sah.
Nach einer Viertelstunde erreichten sie den Bahnübergang. Ein Zug rauschte in südliche Richtung vorbei. Hier verlor sich die Spur. Viro schaute sich verwirrt um, sah sein Herrchen an und wimmerte.
»Entweder hatte er hier ein Auto geparkt oder er ist mitgenommen worden«, meinte Nilsson, der sich dem Hundeführer angeschlossen
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