Der Tote im Schnee
Ottosson.
24
Vincent Hahn war plötzlich wach geworden. Er sah auf die Uhr. Kurz nach neun. Er hatte nur ein paar Minuten geschlafen und war sofort in einen Traum versunken. Irgendwo sprach eine Männerstimme, aber er brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was er da hörte: die Nachrichten im Radio.
Er fand Vivan in der Küche, am Telefon. Angsterfüllt blickte sie zu ihm auf, und er begriff, daß sie Bescheid wußte.
»Leg den Hörer auf«, sagte er und ging ein paar Schritte auf sie zu.
»Du bist genau wie Wolfgang«, erwiderte sie, »du lügst und schlägst.«
»Halt’s Maul! Laß ihn aus dem Spiel!«
»Warum?«
Er nahm ihr den Hörer ab. Sie ließ es zu. Er sah, daß sie schwitzte. Im Radio lief ein schwedischer Evergreen. Er stand jetzt ganz dicht vor ihr. Auf dem Verband um seine Stirn waren Blutflecken.
»Sie war eine Hure«, sagte Vincent leise.
»Kanntest du sie?«
Er riß die Schnur am Hörer heraus.
»Wir sind zusammen in die Schule gegangen. Sie war schon damals ein Schwein.«
»Aber das ist doch eine Ewigkeit her, kannst du ihr nicht verzeihen?«
Vivan wußte, daß Vincent eine schwere Schulzeit durchgemacht hatte, daß er gemobbt worden und ein Außenseiter gewesen war. Wolfgang hatte ihr einmal gesagt, sein Bruder sei das perfekte Mobbingopfer gewesen.
»Ich erinnere mich an alles«, flüsterte er, sie konnte seine Worte kaum verstehen.
Er zog die Schnur über seine Hand.
»Ich werde nichts sagen«, meinte sie.
»Wen wolltest du anrufen?«
»Nettan. Sie läßt sich scheiden und möchte, daß ich sie zu einem Rechtsanwalt begleite.«
»Wer zum Teufel ist Nettan?«
Sein Wutanfall kam so unerwartet, daß sie zurückschreckte und das Gleichgewicht verloren hätte, wenn er sie nicht an den Oberarmen gepackt hätte.
»Welche dreckige verdammte Nettan?!«
»Sie ist eine Freundin von mir«, flüsterte sie. »Du tust mir weh.«
»Verdammt, verdammt. Das ist zu viel Mist, zu viel blödes Gequatsche.«
»Du tust mir weh«, jammerte Vivan in seinem immer fester werdenden Griff. Sein widerwärtiger Atem ließ sie vor Übelkeit würgen. »Sie ist meine beste Freundin«, hauchte sie atemlos.
»Freundin!«
»Du kannst doch hierbleiben«, sagte sie. »Ich könnte etwas Gesellschaft gebrauchen.«
Er ließ sie hastig los, und sie sank in sich zusammen, stützte sich instinktiv auf die Arbeitsfläche der Einbauküche und richtete sich wieder auf. Weine nicht, dachte sie, er verabscheut flennende Frauen.
»Hierbleiben, wie meinst du das?«
Sie schluckte und überlegte sich gut, was sie antworten würde. Die Erinnerung an die Wutanfalle seines Bruders und ihre Beschwichtigungsversuche wurde wieder in ihr lebendig. Mit den Jahren hatte sie gelernt, Wolfgang geschickt auszumanövrieren.
»Ich bin allein«, sagte sie und schlug die Augen nieder.
»Allein«, wiederholte Vincent.
»Diese Frau ist mir doch völlig egal. Immerhin hat sie dich geschlagen.«
»Ja, sie hat mich geschlagen.«
Er blieb mit nachdenklicher Miene stehen, und Vivan glaubte, in seinen Zügen jene Weichherzigkeit zu erkennen, wegen der sie sich zwanzig Jahre zuvor in seinen Bruder Wolfgang verliebt hatte. Die Gebrüder Hahn hatten das sanfte, etwas kindliche Aussehen ihrer Mutter geerbt, aber auch die dunklen Charakterzüge ihres Vaters, eine Mischung, die sich in ihren blitzschnellen Stimmungsumschwüngen niederschlug.
»Sie hat heftig zugeschlagen. Du hättest sterben können, wenn du nicht so einen starken Schädel hättest.«
Er sank auf einen Stuhl. Sie legte ihre Hand an seinen bandagierten Kopf. Wenn er doch bloß gestorben wäre. Niemand würde ihn vermissen, dachte sie, bereute den Gedanken jedoch sofort. Wie ungerecht. Er war trotz allem ein Mensch.
»Möchtest du einen Tee?«
Er schüttelte kraftlos den Kopf.
»Ein Glas Saft?«
Er nickte.
Sie mixte etwas Rhabarbersaft in einer Karaffe und stellte sie zusammen mit einem Glas auf den Tisch. Er trank schnell, mit großen Schlucken. Der weichherzige Gesichtsausdruck kehrte zurück.
»Ich soll dich übrigens von Wolfgang grüßen«, sagte sie.
»Er hat vor ein paar Tagen angerufen.«
Obwohl sie sich nach Jahren voller Zwietracht und Streitereien getrennt hatten, hielten Vivan und Wolfgang Kontakt zueinander. Alle paar Monate rief er sie aus Tel Aviv an.
»Du hast mich nicht angerufen.«
»Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber du bist selten zu Hause. Wolfgang geht es gut, er beklagt sich jedoch darüber, daß die Lage so angespannt
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