Der Tote im Schnee
ist.«
»Das sind diese verdammten Araber«, meinte Vincent.
Vivan hütete sich, näher auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern einzugehen. Statt dessen erzählte sie Tratschgeschichten, die sie von ihrem Exmann erfahren hatte. Ein Cousin der Brüder war Großvater geworden, und ein paar andere Verwandte hatten eine Reise nach Polen gemacht und die dortige Verwandtschaft besucht. Vincent lauschte aufmerksam. Vivan hatte entdeckt, daß er gerne das Neueste von seinen entfernten Verwandten hörte, Namen und triviale Ereignisse auf eine Art im Gedächtnis behielt, die sie immer wieder erstaunte. Er erinnerte sich an alles, und das Wohlergehen seiner Cousins und anderer Familienmitglieder lag ihm anscheinend sehr am Herzen.
»Ich habe gehört, daß Benjamin geheiratet hat«, sagte er, und Vivan tat, als wäre ihr das neu.
»Was sagst du da, das wußte ich ja noch gar nicht. Wen denn?«
»Ein Mädchen aus den USA, die im Ostteil Jerusalems ein Haus gekauft hat.«
Sie unterhielten sich über die gemeinsamen Bekannten, die sie hatten. Vincent wurde ruhiger, trank noch zwei Glas Saft. Vivan unterhielt ihn mit Fragen und kurzen Bemerkungen. Sie schlug vor, Weihnachten gemeinsam zu feiern. Seine Miene hellte sich etwas auf, als sie das sagte.
Dann kam der Wutausbruch. Vivan nahm kaum wahr, daß er sich ankündigte, und begriff noch weniger, was ihn ausgelöst hatte. Sie starb, ohne es zu erfahren, mit einem gurgelnden Laut.
Er schob sie unter das Bett. Sie erinnerte ihn ein wenig an Julia. Die gleiche schöne Ruhe. Die Male von der Schnur leuchteten wie eine blutrote Halskette. Die blau verfärbte Zungenspitze ragte einen Zentimeter aus dem Mund heraus. Vincent mußte lachen und drückte sie wieder hinein, zog jedoch schnell den Finger zurück, als er sich einbildete, Vivan wolle ihn beißen.
Sein Lachen wurde plötzlich zu einem unartikulierten Schrei, der ebenso schnell wieder endete. Vincent setzte sich auf die Erde und betrachtete seine Schwägerin. Fast verwandt, dachte er. Jedenfalls ist sie der Mensch, der in Uppsala noch am ehesten mit mir verwandt ist. Seine Einsamkeit wurde durch das Ticken des Weckers verstärkt, der zu sagen schien: Du bist tot, du bist tot.
Er streckte sich nach der Uhr, die Wolfgang einmal auf einer Geschäftsreise gekauft hatte, und warf sie an die Wand. Im Radio in der Küche lief ein argentinischer Tango.
Er legte seine Hand auf ihre. Sie war noch warm, und ihm wurde schwarz vor Augen. Das Werk eines Augenblicks, und ein Mensch ist fort. Er strich mit der Hand über ihren Arm, streichelte ihn liebevoll. In seinem verwirrten Gehirn regte sich der Gedanke, daß er eine unverzeihliche Tat begangen hatte. Vivan, deren Gesicht sich am Fenster erhellt, die sich über seine üble Wunde erschreckt, ihn aber dennoch bei sich aufgenommen, ihm zu trinken gegeben hatte. Seine Fastverwandte.
Er ahnte, daß sie genauso einsam gewesen war wie er selber, auch wenn sie sich stets bemüht hatte, über ihre Freundinnen zu sprechen. Ihm kam der Gedanke, daß er sich das Leben nehmen könnte, dies vielleicht sogar tun müßte.
Mühsam stand er auf, ging in die Küche, stellte einen umgestürzten Stuhl wieder hin und trank ein paar Schlucke Saft. Als seine Hand die Karaffe umschloß, weil er sich noch ein Glas einschenken wollte, lief ein Brennen durch seinen Arm. Das war Vivans Gruß, sie hatte zuletzt die Karaffe in der Hand gehabt. Nun rief sie sich bei ihm in Erinnerung, und ihm wurde klar, daß sie dies tun würde, solange er lebte.
In der Besenkammer fand er eine Wäscheleine, doch er war nicht in der Lage, eine Schlinge zu binden, sondern saß mit der grünen Plastikleine in den Händen da und vermochte nicht, sich das Leben zu nehmen.
Ein oder auch zwei Stunden später, er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, ließ er die Leine zu Boden gleiten und stand auf. Er aß ein paar Reste aus dem Kühlschrank, ging ins Nähzimmer und schlief nach wenigen Minuten ein.
Allan Fredriksson gelang es im Laufe des Tages, Vincent Hahns Bruder in Tel Aviv zu lokalisieren und mit Hilfe seiner israelischen Kollegen telefonisch Kontakt zu ihm aufzunehmen.
Wolfgang Hahn, der Computerschulungen leitete, war seit sieben Jahre nicht mehr in Schweden gewesen. Während dieser Zeit hatte er vielleicht fünf, sechs Mal mit Vincent telefoniert, zuletzt vor einem Jahr. Er behauptete, nicht einmal die aktuelle Telefonnummer seines Bruders zu kennen. Auf die Frage, ob es einen Bekannten in
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