Der Tote im Schnee
und sah sie flüchtig an.
»Nichts«, widersprach sie. »Absolut nichts.«
»Und warum hat Lennart das dann gesagt?«
Erneut versuchte sie ihm zu erklären, daß Lennart jetzt in einer anderen Welt lebte, in der Johns Tod alles überschattete.
»Wir können uns an John erinnern und haben einander. Lennart hat nichts.«
»Papa hat Lennart gern gehabt«, sagte Justus sehr leise.
»Warum hast du ihm was anderes erzählt?«
Mehr sagte er nicht, aber seine Augen drückten etwas aus, das sie zuvor nicht gesehen hatte. Trauer und einen Haß, der sein Gesicht älter aussehen ließ. Sie verfluchte im stillen ihren Schwager, stand auf, wollte noch etwas sagen, seufzte jedoch nur, verließ Justus und blieb im Flur stehen. Sie hörte, wie er die Tür hinter ihr schloß.
Justus’ Bemerkung, daß John hatte umziehen wollen, beunruhigte sie. Sie hatten zwar einmal unverbindlich davon gesprochen, einen Umzug aber niemals ernsthaft erwogen. Sie waren beide in Uppsala geboren, und zumindest sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Scheißstadt, hatte er zu Justus gesagt, und sie empfand große Trauer, weil er nur mit Justus darüber gesprochen hatte. Worüber hatten die beiden noch gesprochen, wovon sie nichts wußte?
Ann Lindell betrachtete die Fassade vor sich. Der gelbe Backsteinbau erinnerte sie an etwas, wahrscheinlich an ein anderes Haus in einem anderen Fall. Diesmal war sie auf eigene Faust unterwegs, es war ein seltsames Gefühl. Normalerweise wäre sie nun Teil eines Teams mit einer genau definierten Aufgabe und einem klaren Ziel gewesen. Zwar hatte sie sich auch in früheren Ermittlungen des öfteren vortasten müssen, doch jetzt mußte sie sich jeden Schritt noch genauer überlegen. Sie fühlte sich frei, hatte allerdings ein schlechtes Gewissen.
Sie hatte die Auskunft angerufen und sich Telefonnummer und Adresse von Berit Jonsson geben lassen. Hinter einem der hellerleuchteten Fenster wohnte die Frau. Lindell holte ihr Handy heraus, steckte es wieder ein und schaute erneut die Fassade hinauf. Sie sollte Ola Haver anrufen, aber es war spät, und vielleicht war ihr Gefühl auch völlig unbegründet. Wäre sie im Dienst gewesen, hätte sie ihn natürlich angerufen. Wenn sie es jetzt tat, war sie gezwungen, Ola zu erklären, daß sie auf eigene Faust ermittelte. Sie seufzte schwer, tippte seine Nummer ein und drückte nach weiteren Sekunden des Zögerns auf die Verbindungstaste. Rebecka Haver ging beim ersten Klingeln an den Apparat. Ihrer Stimme war anzuhören, daß sie glaubte, ihr Mann wäre am anderen Ende der Leitung.
»Ich möchte Ola Haver sprechen«, sagte Lindell, ohne ihren Namen zu nennen.
Rebecka zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, ehe sie antwortete.
»Er ist auf Arbeit«, sagte sie kurz angebunden.
Schweigen.
»Wer spricht da bitte?«
»Danke, schon gut«, sagte Lindell gezwungen und unterbrach die Verbindung. Idiot, dachte sie im gleichen Moment, sie kann auf dem Display bestimmt meine Nummer sehen.
Ann Lindell schämte sich und verfluchte ihre Ungeschicklichkeit. Er war auf der Arbeit. Sie konnte ihn dort anrufen, aber jetzt schien ihr, sie würde einem Fehler damit einen weiteren folgen lassen.
Das Telefon klingelte, und Berit hob den Hörer ab. Es war eine Frau, von der sie schon einmal in der Zeitung gelesen und über die John gesprochen hatte: Ann Lindell von der Kriminalpolizei. Berit wunderte sich, daß ihre Stimme so müde klang und sie trotz der späten Stunde vorbeischauen und ein paar Worte mit Berit wechseln wollte.
Ann Lindell kam wenige Minuten später. Sie hatte ein Baby im Arm.
»Das ist Erik«, sagte sie.
»Nehmt ihr eure Kinder mit auf die Arbeit?«
»Eigentlich bin ich gar nicht im Dienst«, erklärte Lindell, »aber ich bin trotzdem noch ein bißchen dabei.«
»Ein bißchen«, wiederholte Berit. »Sie haben niemanden, der auf den Kleinen aufpassen kann?«
»Ich bin allein«, antwortete Lindell und legte Erik vorsichtig auf der Couch im Wohnzimmer ab. Der Kleine war wach geworden, als sie Berits Haus erreicht hatten, aber wieder eingeschlafen, als Lindell ihn aufgenommen und die Treppen hinaufgetragen hatte. Berit schaltete die Stehlampe aus, damit ihm das Licht nicht in die Augen schien. Die beiden Frauen standen schweigend da und betrachteten den schlafenden Jungen.
»Was wollen Sie von mir?«
In Berits Stimme schwang Ungeduld mit, vermischt mit etwas, das Lindell als Angst deutete.
»Es tut mir wirklich
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