Der Tote im Schnee
Träumen, und ich sorgte dafür, daß alles funktionierte.«
Berit wandte den Blick vom Aquarium.
»Er übernahm das Träumen«, wiederholte sie, »und begeisterte Justus für seine Träume. Wissen Sie, wie es ist, wenn man arm ist?« fragte Berit und sah Lindell an. »Es bedeutet, am Existenzminimum zu leben, sich aber dennoch etwas gönnen zu wollen. Wir haben alles in Justus gesteckt. Er sollte wenigstens ordentliche Kleider haben. John hat ihm im Herbst einen Computer gekauft, und manchmal haben wir uns zum Wochenende etwas Leckeres gegönnt. Man kann sich nicht ständig arm fühlen.«
In ihrer Stimme schwang kein Stolz mit, sie stellte nur nüchtern fest, daß Familie Jonsson versucht hatte, sich eine kleine Sphäre zu schaffen, in der sie sich wohl fühlen konnte, als ein Teil von etwas Größerem, Schönerem.
»Wir haben uns manchmal vorgestellt, wir wären reich, nicht unermeßlich reich, aber doch so, daß wir vielleicht einmal wegfahren, ein Flugzeug nehmen und irgendwo landen könnten. Ich würde so gerne mal nach Portugal fahren, ich weiß nicht, warum ausgerechnet nach Portugal, aber vor langer Zeit habe ich einmal portugiesische Musik gehört, und die klang, wie wir … oder besser gesagt, wie ich mich fühlte.«
Sie sah sich im Zimmer um, als wollte sie begutachten, was sie und John sich im Laufe der Jahre aufgebaut hatten. Lindell folgte ihrem Blick.
»Ich finde, Sie haben es sehr schön hier«, sagte sie.
»Danke«, meinte Berit anspruchslos.
Eine Stunde später trat Lindell ermattet in die Winterlandschaft hinaus. Die Autos auf der entfernten Vaksalagatan und das Surren einer Straßenlaterne waren die einzigen Geräusche, die sie hörte. Die Menschen blieben in diesen Tagen zu Hause, kochten Weihnachtsschinken und packten Geschenke ein. Sie überlegte, Ola Havers Handynummer zu wählen, erkannte jedoch, daß es dafür schon zu spät war. Wie würde er es aufnehmen, daß sie sich in seinen Fall eingemischt hatte? Was würde seine Frau zu dem Anruf von vorhin sagen?
Sie beschloß, Haver erst am nächsten Tag zu kontaktieren. In den tiefsten Schichten ihres Bewußtseins lauerte der Gedanke, daß sie sich vielleicht sehen könnten. Ihnen blieben noch knapp vierundzwanzig Stunden bis zum Eintreffen ihrer Eltern. Sehen, dachte sie, du willst seine Umarmung. Wenn du ihn nur sehen wolltest, könntest du ihn jederzeit auf der Arbeit besuchen. Nein, du willst ihn bei dir haben, am Küchentisch, wie einen sehr engen Freund, der dich umarmen und dir vielleicht auch einen Kuß geben kann. So sehr lechzt du nach menschlicher Nähe.
Sie freute sich nicht auf den Weihnachtsbesuch ihrer Eltern. Im Gegenteil, sie fürchtete ihn. Im Moment ertrug sie die Fürsorglichkeit ihrer Mutter einfach nicht. Ihr Vater saß die meiste Zeit schweigend vor dem Fernseher, und damit konnte sie leben, aber die immer besorgteren Fragen ihrer Mutter zu ihrem Leben machten sie wahnsinnig. Diesmal konnte sie zwischendurch nicht einmal fliehen wie bei den immer selteneren Besuchen in ihrem Elternhaus.
Zu allem Überfluß sprach ihre Mutter in letzter Zeit immer öfter davon, nach Uppsala ziehen zu wollen. Das Haus in Ödeshög in Schuß zu halten, fiel ihr immer schwerer, weshalb sie es für eine ideale Lösung hielt, eine kleine Wohnung in Uppsala zu kaufen und so in Anns und Eriks Nähe zu sein.
War es richtig gewesen, Lennart und Berit zu besuchen? Lindell blieb im Schnee stehen. Ob sie anhielt, um ihre Arme auszuruhen, weil sie auf dem Bürgersteig nur mühsam vorankam, da die Räder des Kinderwagens tief im nicht geräumten Schnee versanken, oder ob sie erkannte, daß sie unprofessionell gehandelt hatte, spielte keine Rolle. Sie stand reglos da. Es schneite stark, und das war schön, sie fühlte sich geborgen.
Ich bin weiß Gott kein besonders kultivierter Mensch, sagte sie sich innerlich. Ich bin nicht wie diese Kriminalpolizisten im Fernsehen, die sich Opern anhören, sich in der griechischen Mythologie auskennen und entscheiden können, ob ein bestimmter Wein perfekt zu Fisch oder hellem Fleisch paßt. Ich bin einfach ich. Eine ganz normale Frau, die zufällig Polizistin geworden ist, so wie andere zufällig Koch, Gärtner oder Busfahrer werden. Ich will Gerechtigkeit, das ist alles, aber die will ich so sehr, daß ich darüber vergesse zu leben.
Auch ihre Kollegen waren nicht besonders kultiviert. Einige von ihnen kannten wahrscheinlich nicht einmal die genaue Bedeutung des Wortes. Sie rackerten sich ab.
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