Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
von Windeln, Waschmittel, Putzlappen, Bürsten, Zeitungen. Der Ehering an ihrer Hand war verschwunden. In ihrem Ensemble aus goldbraun changierendem Baumwollstoff, einem leuchtendblauen Seidentuch, dazu passenden Ohrringen aus Lapislazuli, mit den offenen Haaren, ihren ungeschminkten, leuchtenden Augen und dem roten Mund sah sie einfach wunderschön aus. Da sollte mal jemand kommen und sagen, daß Äußerlichkeiten nur Maske sind, dachte Marlen. Im Fall der Tabakfrau waren sie zweite Haut, sinnlicher, farbiger Widerschein eines inneren Wohlgefühls, zur Schau getragenes neues Selbstvertrauen.
Marlen und Livia bugsierten das große, mit einem Laken verhüllte Gemälde vorsichtig die Stufen hinauf und durch den engen Flur ins Hinterzimmer. Sie plazierten es mitten im Raum wie eine Trophäe. Auf dem Tisch standen drei Weingläser und eine Flasche französischer Rotwein, ein Haut Médoc, Andenken an einen verflossenen Liebhaber … Die Tabakfrau ging zur Eingangstür und ließ den eisernen Rolladen mit lautem Gerassel herunter.
Sie standen im Hinterzimmer, schwiegen. Andächtig und wie in Zeitlupe zog Marlen das Laken vom Paravent. Jeder der drei Frauen kam es vor, als würde ein Geheimnis gelüftet, dem ruckartige Lichtzufuhr nur schaden konnte. Die Tabakfrau dachte an die Fresken, die beim Bau der römischen Metro entdeckt worden waren, und hatte auf einmal die Befürchtung, auch auf ihrem Porträt könnte plötzlich nichts mehr zu sehen sein. Sie hielt die Luft an.
Da war es. Das Porträt war kein Bild zum Aufhängen, sondern eines zum Verbergen und Enthüllen, eines, hinter dem die Tabakfrau sich an- und ausziehen konnte, das sich, ganz nach Stimmung, ins Licht und in den Schatten rücken ließ – ein Triptychon, als Paravent montiert. Die Tabakfrau konnte ihn wie ein x-beliebiges Möbelstück auf den Boden stellen und so oft verrücken, wie sie wollte.
Marlen, Livia und die Tabakfrau standen davor und schauten, jede mit einem Glas Rotwein in der Hand. Sie vergaßen, daß sie hatten anstoßen wollen.
Der linke Flügel des Paravents wurde beinahe vollständig von einem massigen Frauenkörper eingenommen. Der Körper war mit einem Unterrock bekleidet, der die ausladenden Formen weniger verhüllte als betonte. Wie als Ausgleich war der Körper nicht vollständig abgebildet, sondern nur zwischen Bauchnabel und Kinnansatz. Gesicht, Arme, Beine, Scham: einfach abgeschnitten, weggelassen, unsichtbar. Zu diesem Körper gab es keinen Kopf. Dieser Körper war Körper und sonst nichts, Fleischmasse, Brust, weicher Hals, Bauch. Nur in Halshöhe war ein Stückchen Hintergrund zu sehen, azurblau.
Auf dem mittleren und zugleich breitesten Teil des Triptychons, an dem Livia während der Malsitzungen gearbeitet hatte, war die Tabakfrau vollständig abgebildet. Sie saß in demselben hellen, beinahe durchsichtigen Unterrock wie links auf einem weißen Holzstuhl, von dem die Farbe abblätterte. Ihre Hände lagen zu Fäusten geballt in ihrem Schoß. Ihre Beine waren undamenhaft gespreizt – nicht obszön, eher unbeholfen. Die schwarzen, von silbernen Strähnen aufgehellten Haare waren offen und zurückgekämmt, so daß Stirn und Ohren frei lagen. Die Frau auf dem Paravent schaute eindrücklich aus dem Bild heraus auf die Betrachterinnen: ein Blick, der die Rätselhaftigkeit der Welt in sich aufgenommen hatte, zugleich Verlangen, Wut, Trauer und Sehnsucht nach außen trug. Fast hatte es den Anschein, als sei das mittlere Bild die Verkleinerung des linken Paraventflügels – ein Zoom, ein Abstandnehmen, so daß nun auch der Kopf, die Beine, die Augen ins Blickfeld rückten. Doch so war es nicht. Diese Frau ließ dickleibige, köpf- und lustlose Zeiten allenfalls wie eine ferne Erinnerung erscheinen. Sie war längst aufgebrochen und so vollständig, wie Menschen üblicherweise nun einmal unvollständig sind.
Auf dem rechten Teil des Triptychons war dieselbe Frau in demselben Unterrock ab gebildet, sie hatte jedoch noch mehr abgenommen und war verkleinert hineingetreten in die Welt. Sie stand mit den Füßen im Wasser, und das Wasser konnte ein Fluß sein oder ein Ozean, der ihre Zehen umspülte. Unten die Schicht grünbläuliches Wasser, darüber ein Streifen heller Sand, darüber eine Schicht Himmel, wolkenlos. Und inmitten dieser Elemente, alle Schichten streifend, stand die Tabakfrau. Sie hatte das Nichts, das sie gewesen war, Schritt für Schritt gefüllt und zugleich allen Ballast abgeworfen. Und am Ende war sie wieder Frau
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