Der Tote vom Kliff
hatten
alle Muße der Welt, und so war Lüder nicht erstaunt, dass er den Abzweig der
Straße zum Ellenbogen verpasst hatte. Schuld daran war vielleicht auch der
weiße Audi, der auf Höhe der Vogelkoje mit überhöhter Geschwindigkeit auf
seiner Spur entgegenkam und nach dem riskanten Überholmanöver knapp vor dem
zweiten Fahrzeug vor Lüder wieder auf die Gegenfahrbahn einscherte. Er fuhr
weiter Richtung List, wurde von einem Haus begrüßt, das am Ortseingang weithin
sichtbar auf einem hohen Dünenberg thronte und, wenn auch in anderen
Dimensionen, entfernte Erinnerungen an die Burgen entlang des Rheins weckte,
die weiland auch so erbaut wurden, dass es ihren Herren einen weiten Blick in
die Landschaft ermöglichte.
Lüder war erstaunt, dass trotz des widrigen Wetters
viele offenbar unverdrossene Spaziergänger unterwegs waren und in Richtung
Lister Hafen wanderten, wo nicht nur Deutschlands nördlichste, sondern auch
berühmteste Fischbude stand. Sie war inzwischen einem »Schickimicki-Bau«
gewichen, und der Name des Besitzers stand heute für eine besondere Art der
maritimen Edel- und Schnellgastronomie. Wer etwas auf sich hielt, steuerte in
den Edelpassagen der Metropolen die »Fischbude« an, lutschte demonstrativ an
den Austern und hoffte, dabei von möglichst vielen Leuten gesehen zu werden.
Die Alte Tonnenhalle war mit ihren bunten Läden und
Ständen von Textilien und Devotionalien bis zur Buchhandlung auch am Sonntag
ein Anziehungspunkt für die Urlaubsgäste.
Lüder folgte der Straße mit rot geklinkerten älteren
Einfamilienhäusern, die unendlich schien, dabei aber nur eine von zweien war,
in der die Einheimischen lebten, die meist das Pensionsalter schon erreicht
hatten. Er fuhr am längsten Reihenhaus Deutschlands vorbei, das nur durch die
enge Zufahrt zum Friedhof unterbrochen wurde, und umrundete dann weiträumig das
Naturschutzgebiet, in dem bis zum Abzug der Marine auch der Standortübungsplatz
untergebracht gewesen war.
An der Mautstelle, die die freie Zufahrt zum nördlichsten
Punkt Deutschlands, dem Ellenbogen, versperrte, herrschte gähnende Leere. Große
Jäger hat recht, dachte Lüder. Der schlechte Zustand der Straße war wirklich
eine Zumutung. Nach einer Kurve öffnete sich das Areal, und Lüder sah von
Weitem die Einsatzfahrzeuge, die auf einem Dünenparkplatz standen.
An der Zufahrt bewachte ein uniformierter Kollege ein
Absperrband.
»Presse?«, fragte der Beamte und zog die Stirn kraus,
als ein Wassertropfen von seinem Mützenschirm auf seine Nasenspitze fiel.
»Ein Kollege. LKA .«
Der Beamte nickte, zeigte auf die Fahrzeugansammlung
und sagte: »Da drüben.« Dann gab er die Zufahrt frei.
Lüder parkte neben einem schwarzen Volvo-Kombi mit
Kieler Kennzeichen. Er stieg aus, knöpfte seinen Blouson bis zum Kinn zu und
stapfte durch den Sand die Düne hinauf. Nach der ersten Kuppe, nicht einmal
hundert Meter vom Parkplatz entfernt, traf er auf das Ermittlungsteam. Paulsen
war da. Und Große Jäger. Hauptkommissar Klaus Jürgensen, der Leiter der
Spurensicherung aus Flensburg, kam gerade aus dem weißen Zelt, das um den
eigentlichen Tatort aufgestellt worden war.
»Moin«, sagte der kleine Kriminaltechniker und ging
auf Lüder zu. Er zupfte sich den Einmalhandschuh von der Hand, indem er an den
Fingerspitzen zog, und drückte Lüder zur Begrüßung die Hand. »Das ging aber
fix, dass das LKA schon da ist.«
»Moin, Klaus«, erwiderte Lüder den Händedruck. »Dank
hervorragender Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden sind wir schnell
hier.«
Klaus Jürgensen lachte. »Zusammenarbeit mit den
nordfriesischen Strandpiraten? Pah! Sieh dir das an.« Er ließ seinen
ausgestreckten Arm im Halbkreis rotieren. »So eine wunderbare Landschaft. Und
was machen die Wattläufer daraus? Erschießen ihre Gäste.«
Große Jäger war zu ihnen getreten. »Wenn ich mich
erinnere, bist du als Spurensicherer beim Land angestellt und nicht als
Vortragskünstler. Hast du auch etwas Bedeutsames in deinem Repertoire?«
Jürgensen zeigte auf den Oberkommissar. »Das wundert
mich gar nicht, dass sie den da in Westfalen hinausgeworfen haben. Glück
für ihn, dass es hier nicht weitergeht, sonst hätte man ihn schon lange
Richtung Norden expediert.« Der kleine Hauptkommissar hob den Handrücken an die
Nase und nieste. Dann wies er in Richtung Tatort.
»Tod durch Erschießen. Zwei Einschüsse. Einmal in die
Brust, der zweite in den Kopf. Direkt ins Auge.«
»Ist diese Reihenfolge
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