Der Tote vom Maschsee
nicht ständig anzustarren.
»Ein populärwissenschaftlicher Vortrag, über Typologie von
Sexualstraftätern«, erklärt Liliane Fender. »Sehr beliebt in letzter Zeit. Aber
wollen Sie mir nicht endlich sagen, worum es geht?«
Fernando kommt der Bitte nach.
Liliane Fenders Hände, die ruhig auf der Schreibtischplatte gelegen
haben, verknoten sich. Ihr Blick zuckt zwischen den beiden Beamten hin und her.
»Tot? Im Maschsee? Wieso im Maschsee?«, fragt sie verstört.
»Das wissen wir noch nicht. Nach unseren Ermittlungen hat er keine
Angehörigen. Oder wissen Sie von jemandem?«
»Nein. Seine Mutter ist vor zwei Jahren verstorben. Er hat keine
Geschwister und war nie verheiratet. Wie ist er gestorben?«
»Er wurde erschossen. Einzelheiten wird die Obduktion ergeben.«
»Erschossen?« Ihre Augen weiten sich.
»In der Nacht von Montag auf Dienstag, etwa gegen Mitternacht«,
präzisiert Fernando.
»Und jetzt wollen Sie bestimmt wissen, wo ich zu dieser Zeit war?«,
fragt Liliane Fender. Schrecken und Verwirrung sind aus ihrem Gesicht
verschwunden und haben einer kühlen Beherrschtheit Platz gemacht.
»Unter anderem«, nickt Jule.
»Zu Hause. Allein und ohne Zeugen.«
»Sie wohnen wo?«
Sie deutet nach oben: »Hier, über der Praxis. Es ist Martins ⦠Dr.
Offermanns alte Wohnung, die er mir vermietet hat. Er selbst hat sich vor einem
halben Jahr eine Wohnung in Waldhausen gekauft.« Dr. Fender nennt die Adresse,
und Jule schreibt sie in ihr schwarzes Notizbuch.
»Haben Sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung?«
»Nein, aber ich weiÃ, wo er einen hat. Einen Moment, bitte.«
»Das muss nicht jetzt sein«, ruft Fernando, aber sie ist schon aus
dem Zimmer. Es dauert eine knappe Minute, dann ist sie zurück und legt zwei
Schlüssel an einer roten Kordel vor Fernando auf den Tisch.
»Danke. Wir sind hier, weil wir mehr über Dr. Offermann erfahren
wollen«, sagt Fernando und lächelt die Psychiaterin an. »Wer könnte ihm Böses
gewollt haben?«
»Ich weià es nicht.«
»Woran hat er gearbeitet?«
»Dr. Offermann hat sich in letzter Zeit zusehends auf seine
Tätigkeit als Gutachter beschränkt. Und auf seine öffentlichen Auftritte«, fügt
sie hinzu.
Schon wieder dieses Wort, bemerkt Jule. Als wäre er ein
Zauberkünstler gewesen.
»Was für Gutachten?«, will Fernando wissen.
»Gerichtsgutachten über die Schuldfähigkeit von Gewalttätern,
Gefahrenprognosen für Patienten im MaÃregelvollzug oder für inhaftierte
Straftäter, deren Entlassung oder Vollzugslockerung ansteht, oder die Frage der
Sicherungsverwahrung betreffend.«
»Ein heiÃes Thema«, bemerkt Fernando. »Und nicht gerade eine
harmlose Klientel.«
»Ja, aber in der Regel gut aufgehoben.«
»Arbeiten Sie auch mit ⦠äh �«, fragt Fernando.
»Straftätern? Hin und wieder. Aber mein Gebiet ist die
Traumatherapie.«
»Gab es in letzter Zeit Auffälligkeiten? Drohanrufe, Briefe?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Wurde er von irgendeiner Seite unter Druck gesetzt?«
»Nein, davon ist mir nichts bekannt.« Liliane Fenders Antworten
kommen so emotionslos, als würde sie an einer Umfrage teilnehmen.
Jule Wedekin, die lange geschwiegen hat, mischt sich nun in die
Befragung ein: »Vorhin haben Sie das Wort Auftritt verwendet. Es klang ein wenig despektierlich.«
»Kann sein. Er war oft in den Medien«, antwortet Liliane Fender.
»Bei den Fernsehanstalten galt er als der Experte in
Sachen Sexualstraftäter.«
»Fanden Sie das gut?«
»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Allerdings arbeitet es
sich einfacher, wenn das Thema nicht gerade am Hochkochen ist.«
»Wie standen Sie zu Dr. Offermann?«
»Wir sind Partner. Geschäftlich.«
»Und privat?« Jule hält bei dieser Frage sowohl dem Blick ihrer
Eiswürfelaugen stand als auch dem vorwurfsvollen Stirnrunzeln von Fernando.
»Privat hatten wir keine Berührungspunkte. Jeder lebte sein Leben.«
»Wir würden uns jetzt gerne mal Dr. Offermanns Sprechzimmer ansehen«,
sagt Fernando.
»Natürlich. Es ist nebenan.«
Ein Mahagonischreibtisch dominiert den Raum, und zumindest hier gibt
es eine Liege. Ansonsten dieselben Ledersessel wie drüben, eine riesige
Kaffeemaschine und ein langes
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