Der Tote vom Maschsee
rausgekommen. Eine
ordentliche Strecke, aber machbar.«
Jule widerspricht ihm nicht. Aber was ändert das?
Doch, Einiges. Ein Spaziergang ist für einen Täter, der ihm
möglicherweise nach dem Vortrag auflauerte, nicht vorhersehbar gewesen. Der
Nachhauseweg zu Fuà schon eher. Aber warum ist Offermann nicht der belebten,
gut beleuchteten Promenade am Nord- und Ostufer gefolgt? Das wäre kein Umweg
gewesen. Das Marriott liegt am nordwestlichen Ufer des Sees, Offermanns
Wohnviertel diagonal gegenüber, im Südosten. Die zwei möglichen Strecken
dürften in etwa gleich lang sein, wobei der schnurgerade Weg am östlichen
Rudolf-von-Bennigsen-Ufer entlang bestimmt schneller zurückzulegen ist. Warum
wählt der Psychiater das krumme, dunkle Westufer?
Weil er ein Mann ist, erkennt Jule. Er hat keine Angst vor einsamen
Wegen, undurchsichtigen Gebüschen. Er denkt nicht wie Frauen: Welches ist der
sicherste Weg? Er hat Kopfschmerzen, er will Ruhe und frische Luft und
entscheidet sich für den schöneren, ruhigeren Weg.
Die Wohnung des Psychiaters liegt im zweiten Stock einer
Jahrhundertwende-Villa, in der drei Wohnungen untergebracht sind, eine auf
jeder Etage. Offenbar hatte der Psychiater eine Vorliebe für Altbauten.
Sie schlieÃen die Haustür auf. Jule registriert im Treppenhaus einen
muffigen, abgestandenen Geruch, als wäre schon länger nicht mehr gelüftet
worden. Beide ignorieren den Aufzug und steigen die hölzernen Stufen hinauf.
Man sieht Offermanns Wohnung an, dass sie erst vor Kurzem neu
eingerichtet worden ist, und zwar konsequent in britischem Empire-Stil. Mit den
auf Antiquität getrimmten dunklen Möbeln ähnelt sie einer teuren Hotelsuite.
Einige Bücher lagern noch in Schachteln, was Jule wiederum an das eigene
häusliche Chaos erinnert.
Sie streicht mit der Hand über eine Kommode. »Kaum Staub. Und sehr
aufgeräumt. Entweder war er ein Ordnungsfreak, oder er hatte eine Putzfrau. Wir
sollten die Nachbarn fragen.«
»Wir sollten vor allen Dingen Handschuhe anziehen, sonst riskieren
wir einen Generalanschiss von Fiedler.«
»Sorry. Wer ist Fiedler?«
»Der Chef der Spurensicherung.«
Auch in der Küche herrschen Ordnung und Sauberkeit.
»Schau mal, der hat nicht nur einen normalen Kühlschrank, sondern
auch noch einen für Weinflaschen«, stellt Fernando verzückt fest.
»Wenigstens hat er keinen Fusel getrunken«, bemerkt Jule beim
Betrachten des Inhalts.
»Unsere Frohnatur hatte übrigens auch ein Fläschchen Kognak im
Schreibtisch in der Praxis stehen«, berichtet Fernando und schlieÃt die Tür des
Weinschranks. Dann macht er sie wieder auf. Und wieder zu.
»Was tust du da?«, fragt Jule.
»Hör doch mal.« Tür auf. Tür zu.
»Was soll ich hören?«
Tür auf. Tür zu. »Das Geräusch beim SchlieÃen der Tür: Klingt wie
ein Rolls Royce.«
»Woher weiÃt du das?«
»Als Pimpf habe ich in einem Nobel-Autoladen gejobbt. Da durfte ich
öfter mal einen waschen.«
Jule verdreht wortlos die Augen und verlässt die Küche.
Im Arbeitszimmer finden sich Autoschlüssel zu einem BMW
und das Flugticket nach Zürich. Fernando schaltet den Computer ein. Jule sieht
sich im Flur um. Ein Telefon steht auf einer Kommode, der Anrufbeantworter
blinkt. Ein Anruf, heute Morgen um acht Uhr:
Grüezi Martin, Anneli hier. Ich hoffe, ich weck
dich jetzt nicht auf. Wollt dir nur sagen, dass ich heute Abend ab neun Uhr im
Hotel Baur du Lac auf dich warte. Salü!
Frau Dr. Fender hat also nicht übertrieben â in jedem Hafen eine
Braut. Ob ihr Vater wohl auch in jeder Stadt, in der er regelmäÃig an
Kongressen teilnimmt, eine Geliebte sitzen hat? Oder ihre Mutter? Geht sie nach
den Konzerten mit dem Dirigenten aufs Hotelzimmer? Was für saudumme Gedanken,
Jule! Und selbst wenn, was hat das mit diesem Fall zu tun? Ob ihre Eltern wohl
heute Abend anrufen und sie fragen werden, wie der erste Arbeitstag in der
neuen Dienststelle verlaufen ist? Und die erste Nacht in der neuen Wohnung?
Verdammt, jetzt konzentriere dich gefälligst auf deine Arbeit, ermahnt sich die
Kommissarin.
Im Schlafzimmer liegt ein aufgeklappter und halb gepackter Koffer
auf dem Doppelbett.
»Sieh an, unter dem Deckmäntelchen der Kunst kann man sich die
nettesten Sauereien an die Wände hängen«, stellt Fernando wenig später neidvoll
fest, denn
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