Der Tote vom Maschsee
Nachbarn
beobachte?«
»Hat sie Verwandte?«, fragt Jule.
»Nein. Die Tochter ist gestorben, vor einem Jahr.«
»Wann haben Sie Frau Mensing eigentlich zum letzten Mal gesehen?«,
»Weià ich nicht mehr. Sie gehört in ein Heim, wenn Sie mich fragen.«
Das Thema ist Frau Papenburg offenbar unangenehm, sie zieht sich immer mehr ins
Dunkel ihres Flurs zurück, die Wohnungstür schlieÃt sich Zentimeter für
Zentimeter.
»Hat sie einen Vormund?«
»Ja, einen Anwalt. Weià nicht mehr, wie der heiÃt«, murmelt Frau
Papenburg.
»Wie bitte?«, ruft Jule durch den immer enger werdenden Türspalt.
»Ich kann mich nicht an den Namen erinnern«, behauptet die Frau.
»Aber Sie hat ihn Ihnen gesagt?«
»Ja, damals, nach der Beerdingung Ihrer Tochter.«
»Dann fragen Sie sie doch bitte noch mal danach.«
»Fragen Sie sie doch selber«, kommt es patzig zurück. Frau Papenburg
will die Tür gerade ganz schlieÃen, aber im letzten Augenblick schiebt Jule
ihren Fuà dazwischen und stöÃt die Tür zurück. Sie knallt gegen die Wand, Putz
rieselt hinab. Frau Papenburg japst vor Empörung.
Jule klemmt sich in den Rahmen. »Nein, Sie werden sie fragen. Mich kennt sie nicht. Sie schon.«
»Ich geh da nicht rauf, in diesen Saustall«, verkündet Frau
Papenburg und verschränkt trotzig die Arme vor der fülligen Brust. »Was geht
Sie das überhaupt an, ich denke, Sie sind von der Mordkommission? Wegen dem
Offermann. Mein Gott, so ein feiner Mensch, und jetzt das!«
Sie wendet sich demonstrativ an Fernando, der abwechselnd Frau
Papenburg und Jule ansieht und offenbar nicht weiÃ, ob er sich einmischen soll.
Jule mustert Frau Papenburg aus zusammengekniffenen Augen: »Richtig,
wir sind für Leichen zuständig, Frau Papenburg. Für sämtliche Leichen. Und wenn
Frau Mensing diesen Sommer durch Ihre Decke tropft, dann sind wir ebenfalls
zuständig.«
Frau Papenburgs Kiefer klappt nach unten.
Jule zückt ihr schwarzes Notizbuch und schreibt zwei Telefonnummern
und ihren Namen auf ein Blatt. Eine Karte ihrer neuen Dienststelle hat sie noch
nicht. Sie gibt den Zettel Frau Papenburg, die eingeschüchtert danach greift.
»Ich erwarte Ihren Anruf in den nächsten Tagen. Am besten morgen. Und hier â¦Â«,
Jule greift in ihre GesäÃtasche, »â¦Â haben Sie zwanzig Euro. Gehen Sie bitte zum
Supermarkt, kaufen Sie ein paar Gläschen Babynahrung und was zu trinken und
bringen Sie es Frau Mensing hinauf. Aber heute noch. Auf Wiedersehen. Und
vielen Dank für die Nachbarschaftshilfe.«
»Was war denn das eben?«, meint Fernando auf dem Weg zum Wagen.
Jule sieht noch immer wütend aus. »Wir hatten im Bezirk Mitte genug
Fälle verwahrloster alter Leute, mir reichtâs einfach.«
»Ist ja gut«, beschwichtigt Fernando. »Komm wieder runter.«
»War heute was Besonderes los?«, fragt Sabine Völxen nach
dem Abendessen. Ihr Mann ist die ganze Zeit über schweigsam gewesen, und dass
er lediglich eine kleine Portion vom Zitronenhühnchen gegessen hat, kann ihrer
Meinung nach nur zweierlei Ursachen haben: ein Verbrechen, das ihm auf den
Magen schlägt, oder seine groà angekündigte Diät. Sie hofft auf Letzteres.
»Ein Toter am Maschsee. Jemand hat ihn gestern Nacht erschossen, ihm
die Zunge rausgeschnitten und sie auf dem Friedhof Stöcken auf das Grabmal der
Haarmann-Opfer gelegt.« Morgen wird es ohnehin in der Zeitung stehen, und
Sabine erfährt die Dinge gern aus erster Hand. Und Wanda sowieso. Nur mit Mühe
hat er ihr ausreden können, sich nach dem Abitur bei der Polizei zu bewerben.
»Bizarr«, meint Wanda denn auch prompt mit leuchtenden Augen. »Wer
ist der Tote?«
»Dr. Offermann, ein forensischer Psychiater. Wir standen schon
zusammen vor Gericht. Er als Gutachter und ich als Zeuge.«
»Der war doch erst neulich wieder im Fernsehen«, erinnert sich
Sabine. »Er ist so eine Art Experte für Sexualstraftäter, oder?«
»Genau der.«
»Willst du noch den Schenkel?«, fragt Sabine.
»Nein, danke«, sagt Völxen, obwohl der Anblick des Hühnerschenkels
in der Kasserolle kaum zu ertragen ist â so knusprigbraun, so wohlgeformt. Von
nur einer Hühnerbrust und einem Flügel wird doch ein Mannsbild wie er nicht
satt. Aber die Kalorien ⦠Lieber jetzt verzichten, als nachher
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