Der Tote vom Maschsee
auf den Rotwein.
»Gibt es Verdächtige?«, fragt Sabine, während ihr Gatte mit dem
Blick eines bettelnden Hundes den Hühnerschenkel verfolgt, der nun auf ihrem
Teller landet.
»Bis jetzt nicht.«
»Keine Ehefrau?« Sabine ist stets der Ansicht, dass jede Ehefrau
genug Gründe hat, ihren Gatten umzubringen.
»Nein.«
»Dann muss es mit seinem Beruf zu tun haben«, schlussfolgert sie.
»Das mit der Zunge sieht nach Mafia aus«, meint Wanda. »Einer, der
zu viel gequatscht hat.«
»Nein, das glaube ich nicht«, widerspricht ihre Mutter. »Aber stell
dir vor, so ein Kinderschänder läuft nach ein paar Jahren wegen guter Führung
wieder frei herum. Da kann bei Angehörigen eines Opfers schon der eine oder
andere Mordgedanke aufkommen, oder nicht?«
»Ãber Haftzeit und Entlassung entscheidet immer noch der Richter«,
gibt Völxen zu bedenken. »Und würde so jemand nicht eher den Täter selbst
umbringen?« Er entkorkt eine Flasche Sangiovese.
Wanda bläst sich auf die für sie typische Art eine blonde
Haarsträhne aus dem Gesicht. »Habt ihr nachgeprüft, ob eines seiner Schäfchen
in letzter Zeit entlassen worden ist?«
»Nein, auf so eine Idee kommen wir Polizisten nicht«, versetzt der
Kommissar, während er den Wein in zwei Gläser füllt.
»Der Richter fällt das Urteil«, wiederholt Wanda nachdenklich die
Worte ihres Vaters, »aber der Gutachter ist das Zünglein an der Waage. Deshalb
die abgeschnittene Zunge«, triumphiert Wanda. »Hey, das passt doch, oder, Dad?«
Dad . Können Töchter heutzutage nicht mehr
Papa sagen? »Eine etwas plakative Symbolik, aber nicht ganz von der Hand zu
weisen«, muss Völxen zugeben.
»Eine glasklare Botschaft«, findet Wanda.
»Kann sein. Aber jetzt habe ich Feierabend. Was war das eigentlich
für ein Huhn?«
»Ein Zitronenhühnchen, hat man das nicht geschmeckt?«, fragt Sabine
zurück.
»Ich meine, wo kommt es her?«
»Vom Bauernmarkt in Gehrden. Warum?«
»Ach, nur so. Es war hervorragend.«
Wanda steht auf. »Halt mich auf dem Laufenden, Dad. Und wenn du
Hilfe brauchst â du kannst mich jederzeit fragen.«
»Vielen Dank, sehr groÃzügig.«
»Krieg ich dein Auto, Mum?«
»Wo willst du denn hin?«
»Der Kunstkurs trifft sich in der KGB-Bar.«
»Mitten in der Woche? Du schreibst in einem Monat dein Abitur!«
»Ich bleib nicht lange. Morgen hab ich erst zur Dritten.«
»Meinetwegen«, lenkt Sabine ein. »Null Alkohol, klar? Und dass mir
morgen früh noch genug Benzin drin ist. Ich habe um neun eine Vorlesung.«
Sabine ist Dozentin für Klarinette an der Hochschule für Musik und Theater.
»Klar.« Wanda schnappt sich den Autoschlüssel.
»Waren wir eigentlich auch so?«, fragt Sabine, nachdem die Haustür
hinter Wanda zugeschlagen ist.
»Ich schon«, bekennt Völxen. »Darum ist ja auch nichts Gescheites
aus mir geworden.«
Sabine widerspricht ihm nicht. Während der Kommissar den Wein gegen
die Lampe hält und im Glas kreisen lässt, kommt er ins Grübeln. Eine Botschaft,
hat Wanda gesagt. Serientäter hinterlassen Botschaften. Nein, bitte, bloà das
nicht.
Jule Wedekin weià nicht, wie lange sie geschlafen hat, als
sie hochschreckt. Sie hat von ihrem Vater geträumt, und dann war da noch eine
riesige Zunge auf einem Tablett in einem Kühlschrank ⦠Sie braucht einen
Moment, bis sie erkennt, wo sie ist â die Matratze auf dem Boden, die
Umzugskisten um sie herum. Ein Streifen Mondlicht fällt durchs Fenster. Sie
hört Geräusche. Grässliche Geräusche. Aufrecht sitzt sie im Bett, halb wütend,
halb ängstlich. Verdammt, was ist das? Der Ton schwillt an. Ein Röcheln, ein
Ãchzen, ein schauriges Tiergebrüll. Es kommt von oben, definitiv. Es wird
lauter, die Abstände kürzer. Kann es sein, dass ein Mensch in Ekstase solche
Geräusche von sich gibt, fragt sich Jule entsetzt. Wenn ja, dann kann man nur
hoffen, dass derjenige kein allzu ausschweifendes Sexualleben führt. Jetzt
ertönt ein Röhren, das die Wände zittern lässt. Schon in der ersten Nacht in
ihrer neuen Wohnung hat sie eine ganze Weile gebraucht, um sich an die Geräusche
in dem Mietshaus zu gewöhnen: an das Knacken von Balken, Schritte im
Treppenhaus, das leise Glucksen der Wasserleitungen und das
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