Der Tote vom Maschsee
gelegentliche
Rauschen einer Klospülung. Aber das jetzt eben â das ist nicht normal, kein
menschliches Wesen produziert solche Laute.
Stille.
Hoffentlich warâs das, denkt Jule und zieht sich die Bettdecke über
den Kopf.
Mittwoch, 18. April
Hauptkommissar Völxen besitzt das gröÃte Büro der Etage,
und da es dem Dezernat an einem Besprechungsraum mangelt, hat man eine Sitzgruppe
vor das Fenster gequetscht. Dort findet jeden Morgen die obligatorische
Besprechung statt.
»Ein eifersüchtiger Ehemann hätte dem sicher was ganz anderes
abgeschnitten«, meint Fernando.
Völxen trinkt einen Schluck Kaffee, zieht missmutig die Brauen zusammen
und murmelt. »Unappetitlich.«
»Vielleicht warâs ein Haarmann-Fan«, spekuliert Fernando weiter. »Es
gibt genug Freaks. Ich frag mich nur, warum gerade Fritze Haarmann so populär
ist.«
»Haarmann war das Medienereignis der Weimarer Republik«, meldet sich
Jule Wedekin zu Wort. »Davor hat man mit solchen Leuten kurzen Prozess gemacht,
aber über die Vernehmungen von Haarmann existieren ausführliche Protokolle. Er
war der erste Massenmörder, der einen Einblick in sein Innenleben gestattete.
Er war nämlich sehr fromm und auÃerdem überzeugt davon, ein herzensguter Mann
zu sein, weil er Jungen von der StraÃe auflas und zu sich nahm. Dass er sie
dann in seine Wurstwaren integriert hat, war in seinen Augen wohl nur
konsequent, immerhin war er Schlachter.«
»Mensch soll ja fast wie Pferd schmecken«, merkt Fernando dazu an.
Oda verdreht die Augen. Bisher hat sie geschwiegen, denn sie hat
ausgesprochen schlechte Laune. Es fing schon heute Morgen an, als sie im
Badezimmerspiegel die Fächer aus Fältchen um Lippen und Augen betrachtet und
festgestellt hat: Allmählich sehe ich aus wie ein verwitterter Zaunpfahl. Dann
hat ihr auch noch Veronika am Frühstückstisch eröffnet, dass sie ab sofort auf
einen Sarg sparen werde, in dem sie zukünftig, anstatt in einem Bett, schlafen wolle.
Und nun geht ihr diese Wedekin auf die Nerven. Noch immer führt sie das groÃe
Wort.
»AuÃerdem wählte die Polizei damals einen neuen Weg, um Haarmann ein
Geständnis zu entlocken. Er wurde meistens nachts verhört. Oben in den Ecken
seiner Zelle hatte man vier kleine Regalbretter angebracht. Darauf stellten die
Polizisten die Schädel der vier bis dahin gefundenen Opfer. Sie waren mit rotem
Papier beklebt, und dahinter brannten Kerzen. Haarmann wurde in der Zelle
angekettet. AuÃerhalb seiner Reichweite wurde ein Sack hingestellt, in dem sich
angeblich die Gebeine der von ihm Getöteten befanden. Die Seelen der Toten, so
behaupteten die Polizisten, würden Haarmann nicht zur Ruhe kommen lassen, bis
dieser seine Verbrechen gestanden habe. Nach ein paar Tagen hat er dann ein
Geständnis abgelegt.«
»Interessant. Davon habe ich bis jetzt nichts gewusst«, bekennt
Völxen zwischen zwei Bissen von einem Butterkeks.
Fernando grinst. »So was müsstest du heute mal bringen, da wäre aber
was los.«
Oda zieht es vor, sich ihren Teil zu denken: Kaum einen Tag hier,
und schon dominiert das Fräuleinwunder unsere Teamsitzung. Hat wohl die halbe
Nacht im Internet gesurft, um hier zu glänzen.
»Brav recherchiert und vorgetragen«, sagt sie nun. »Aber könnten wir
uns jetzt vielleicht wieder unserem Fall widmen?« Sie ignoriert den
missbilligenden Blick ihres Vorgesetzten. An dessen Hals klebt noch ein Rest
Rasierschaum und ein Fitzelchen Toilettenpapier. Das bedeutet, dass Sabine vor
ihm das Haus verlassen hat, was wiederum heiÃt, dass er kein Frühstück serviert
bekommen hat und natürlich zu faul war, sich selbst eines zu machen. Ergo ist
er mit Vorsicht zu genieÃen, bis er in der Cafeteria war und sich ein fettes
Croissant einverleibt hat. Aber Oda ist heute nicht nach Rücksichtnahme. »Und
im Ãbrigen handelt es sich nicht um ein Denkmal für Haarmann, sondern für die
Opfer von Haarmann. Was ja wohl ein Unterschied ist«, setzt sie hinzu, lehnt
sich wieder zurück und verschränkt bockig die Arme.
Völxen geht nicht darauf ein. »Es kann natürlich sein, dass
Offermann einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war. Dann wird das eine
schwierige Sache. Aber daran glaube ich nicht, wegen der Zunge.« Er nimmt einen
Schluck aus der Tasse mit den Schafen, einem Mitbringsel von Frau Cebulla, und
Weitere Kostenlose Bücher