Der Tote vom Maschsee
hechelt hinterher bis in den zweiten Stock. Hier scheint es zu sein.
Stühle sind aufgereiht, etwa drei Dutzend Frauen sitzen schon da, einige
unterhalten sich leise. Die Frau mit den Locken hängt ihre Jacke über einen der
Stühle in der letzten Reihe und setzt sich. Oda nimmt zwei Sitze weiter, ganz
am Rand, Platz. Vor einer Projektionswand steht Irene Dilling. Oda hat vorhin
noch die alten Presseberichte über den Fall Karoline überflogen, auÃerdem
erkennt Oda sie wieder als die Frau, die bei Offermanns Vortrag so auffallend
missbilligend den Kopf geschüttelt hat. Der Sender könnte auch endlich mal die
Aufzeichnung der Maybrit-Illner-Sendung schicken, fällt ihr dabei ein. Neben
Frau Dilling steht eine elegante MittdreiÃigerin, die sich gerade an einem
Laptop zu schaffen macht.
Viertel nach acht. Frau Dilling schaut ins Publikum, das Gemurmel
ebbt ab. »Guten Abend. Es freut mich, dass heute auch etliche Gäste zu Pro victim gefunden haben. Ich darf nun Frau Dr. Liliane
Fender begrüÃen, die uns heute einen Vortrag mit dem Titel Die
Narben der Gewalt â Traumata von Verbrechensopfern halten wird. Danach
wird sie Ihre Fragen beantworten, und wir können noch über den einen oder
anderen Aspekt diskutieren. Frau Dr. Fender ist Psychiaterin und spezialisiert
auf Traumatherapie. Aber das erklärt sie Ihnen am besten selbst.«
Höflicher Applaus. Die Referentin tritt nach vorn, lächelt
verbindlich und lässt ihren Blick durch die Reihen gleiten.
Oda grinst verstohlen. Diese Frau ist eindeutig ein paar Nummern zu
groà für Fernando, da kann er sich noch so sehr abstrampeln. Davon abgesehen
findet Oda es seltsam, dass Dr. Fender einen Vortrag bei der Organisation hält,
deren Leiterin ihren Ex-Kollegen öffentlich angegriffen hat.
Die Psychiaterin beginnt mit Historischem, erklärt anhand der
überlebenden Opfer der beiden Weltkriege den Begriff des kollektiven
Langzeittraumas: »Eine Bekannte erzählte mir von ihrer GroÃmutter. Die wollte
nie das Haus verlassen, wenn es schneite. Die Enkel haben sie deswegen
ausgelacht. Später hat die Frau von ihrer GroÃmutter erfahren, weshalb sie die
Berührung mit Schnee vermeiden wollte. Bei der Flucht aus OstpreuÃen war sie
versehentlich auf die Gesichter Erfrorener getreten, die unter der Schneedecke
verborgen waren.«
Sogar Oda schaudert bei dieser Vorstellung.
»Verdrängung ist eine legitime Strategie â solange sie
funktioniert«, hört sie Dr. Fenders volle, dunkle Stimme sagen. »Doch eine
mögliche Auswirkung der Verdrängung ist die Weitergabe von Gewalt. Gewalt ist
sehr oft ein unbewusster Versuch, ein Trauma zu bewältigen. In auffallend
vielen Fällen werden aus Opfern später Täter.«
Oda muss unweigerlich daran denken, wie sie Veronika manchmal
angebrüllt hat, und sie erinnert sich auch an die fünf, sechs Ohrfeigen, die
sie ihrer Tochter im Lauf der Jahre verpasst hat. Ist es ein Wunder, dass
Veronika jetzt, auf dem Höhepunkt der Pubertät, makabre Spleens pflegt, sich
wie eine mittelalterliche Hexe herrichtet und mit anderen verkorksten
Jugendlichen nachts auf Friedhöfen herumtreibt? Als Mutter habe ich wohl
versagt, schlussfolgert Oda.
Dr. Fenders Vortrag gefällt ihr deutlich besser als der ihres
verstorbenen Kollegen. So kühl diese Frau auf den ersten Blick wirkt, so hat
sie doch etwas Verbindliches, das Vertrauen schafft.
»Kinder und Heranwachsende brauchen Bindungen und Beziehungen â¦Â«
Oda hängt erneut ihren eigenen Gedanken nach. War es richtig, den
Kontakt zu Veronikas Vater so konsequent abzubrechen? Er hat nie den Wunsch
geäuÃert, seine Tochter sehen zu wollen, was Oda ganz recht war. Hat sie es
sich aber damit womöglich zu leicht gemacht? War es verwerflich, dass sie
Veronika erzählt hat, ihr Vater lebe im Ausland, und sie wisse nicht, wo? Dabei
hat er all die Jahre in Braunschweig gewohnt. Wenn sie älter ist, kann sie ihn
ja mal treffen, hat sich Oda immer wieder gesagt. Vorige Woche erreichte Oda
dann die Nachricht vom Tod ihres Ex-Ehemanns. Er ist schon vor zwei Monaten
gestorben. Die Lebensversicherung hat ihr mitgeteilt, dass Veronika einen
Betrag von knapp fünfzigtausend Euro erhalten soll. Ein Vater, der für seine
Tochter spart â das passt nicht in Odas Bild vom verantwortungslosen Säufer und
Schläger.
Es war nur ein einziges Mal. Hinterher
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