Der Tote vom Maschsee
Auftrag
flöten gegangen, mit dem ich fest gerechnet hatte. Das alles kam in dem Moment
hoch, und ich hatte eine solche Wut, ich war am Platzen. Das Mädchen war schon
fast an der Tür nach drauÃen, da habe ich ein Kantholz genommen und es ihr an
den Kopf gehauen. Sie fiel um und dann war sie bewusstlos.«
(Drei Sekunden Stille.)
»Und dann haben Sie sie in den Keller gebracht.«
»Ja.«
»Und vergewaltigt.«
»Ja, aber darum ging es nicht.«
»Worum ging es dann?«
»Ich wollte einfach mal die Kontrolle über einen
Menschen haben. Ich wollte, dass jemand meinen Schmerz spürt.«
»Sie haben sie zwei Wochen lang festgehalten.«
»Ja ⦠ich ⦠es wurde von Tag zu Tag schwieriger,
damit aufzuhören.«
»Wann hätten Sie denn aufgehört, wenn sie nicht
gestorben wäre?«
(Schweigen.)
»Haben Sie mit dem Mädchen gesprochen?«
»Ich habe ihr nur Anweisungen gegeben. Sie hatte
zu schweigen.«
»Sie haben also die ganze Zeit nicht gewusst, wie
sie heiÃt, wie alt sie ist, wo sie wohnt?«
»Doch. Das stand ja in der Zeitung.«
»Was empfanden Sie beim Lesen dieser
Zeitungsberichte?«
»Es war ein gutes Gefühl, etwas zu wissen, was
sonst keiner weiÃ.«
»Wie haben Sie sie am Weglaufen gehindert?«
»Sie kam in eine Kiste.«
»Und ihre Schreie?«
»Ein Knebel.«
»Was geschah, wenn sich das Mädchen ihren
Anweisungen widersetzt hat?«
»Es gab Strafen.«
»Was für Strafen?«
»Strafen halt. Ich weià nicht mehr. Aber nach
einer Weile war die lammfromm, die hat gemacht, was ich gesagt habe. Hören Sie,
ich möchte darüber nicht mehr sprechen. Das ist vorbei, dafür habe ich fast
fünfzehn Jahre gesessen.«
»Tut es Ihnen leid?«
»Dass ich gesessen habe ⦠na, was glauben Sie
denn?«
»Die Tat.«
»Natürlich. Natürlich tut mir das leid. Ich weiÃ
nicht, was für ein Mensch ich damals war. Es war alles so ⦠so trist, und ich
steckte so voller Wut.«
»Woher kam diese Wut?«
»Weil alle auf mir rumgetrampelt sind. Schon
immer. Schon in der Schule. Ich war immer der, den sich der Klassenrowdy als
Opfer ausgeguckt hat. Und im Knast, also im Jugendknast, da war das auch nicht
besser. Da sind schlimme Dinge passiert.«
»Was für Dinge?«
»Ist egal. Ist vorbei. Ich bin jetzt viel älter
und ich weiÃ, was ich will.«
»Was denn?«
»Wenn ich rauskomme, werden Irma und ich
heiraten. Vielleicht machen wir zusammen eine Kneipe auf.«
»Wer ist Irma?«
»Meine Verlobte. Sie besucht mich hier, so oft es
geht. Sie liebt mich.«
»Und Sie?«
»Ich sie auch. Sie ist eine tolle Frau.«
»Und was ist, wenn Irma Sie verlässt?«
»Ich werde so etwas wie damals nie wieder machen.
Ich bin nicht mehr der Mensch von damals. Ich kenne nun meine Grenzen, und ich
habe mich unter Kontrolle. Das lernt man im Knast. Hören Sie, ich möchte jetzt
aufhören. Ich habe Kopfschmerzen, und es gibt auch bald Mittagessen.«
»In Ordnung, Herr Strauch. Danke für das
Gespräch.«
Donnerstag, 19. April, Abend
Die drei Türme des Lindener Heizkraftwerks stechen in den
honiggelben Abendhimmel. Die Temperaturen sind noch beinahe mediterran. Ein
Abend, den man besser im Biergarten verbringen sollte, denkt Hauptkommissarin
Oda Kristensen, als sie das Faust-Gelände betritt. Vergeblich sucht sie am
Eingang nach einem Schild, das den Weg zu Pro victim weist. ⦠Albanischer Kulturverein Yusuf Gervalla,
Kurden-Komitee, Institut für nutzlose Objekte, Bewegtes e.V., Die Distel â ein Lesbentreff, wenn sich Oda richtig erinnert â Frauen-Tribunal â was soll das sein? â Grünes, Asyl, Mira, MIK, MIX ⦠Oda ist dabei, ihre Idee zu verfluchen, als eine junge Frau mit Windjacke und
kurzen braunen Locken an ihr vorbei in das Backsteingebäude geht und
zielstrebig die Treppe ansteuert.
»Verzeihung, wissen Sie vielleicht, wo das Treffen von Pro victim stattfindet?«, ruft ihr Oda hinterher.
Die Frau zuckt zusammen, als hätte man ihr ein Schimpfwort
nachgerufen, dann aber dreht sie sich doch um und sagt etwas Undeutliches, was
Oda als Aufforderung interpretiert, ihr zu folgen.
Doch das ist gar nicht so einfach. Die Frau ist jünger als Oda und
raucht garantiert keine Rillos, so kraft- und schwungvoll wie sie die Stufen
nimmt. Oda
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