Der Tote vom Maschsee
Gänsemarsch, denn es gilt eine Frau
mit einem Riesenschnauzer, schwarz wie die Hölle, zu überholen. Wenigstens
läuft das Kalb an der Leine. Vielleicht sollte sich Völxen, anstatt Nordic
Walking zu betreiben, lieber einen Hund zulegen, mit dem er jeden Abend durch
den Wald spazieren könnte. Ohne Stöcke und in normaler Kleidung. Tagsüber
könnte der Hund die Schafe bewachen, damit die nicht so viel Quatsch â¦
»ân Abend Herr Kommissar!«
Das darf nicht wahr sein! Widerwillig dreht sich Völxen nach der
Hundebesitzerin um â ein Fehler. Er strauchelt über seinen linken Stock, kippt
vornüber und landet im nächsten Augenblick in einer breiten Treckerfurche auf
dem Bauch.
»Alles heil?«, erkundigt sich sein Sportskamerad fürsorglich.
Auch die Damen sind stehen geblieben. Besorgte Blicke, verhaltenes
Kichern, Helga hastet herbei, der Höllenhund rast.
Völxen rappelt sich auf. »Schon gut. Nichts ist passiert«, sagt er
unwirsch, reibt sich den brennenden rechten Ellbogen und klopft sich den Staub
vom Freizeitanzug. Warum musste Sabine auch Hellblau wählen, sodass man jeden
Dreck sofort sieht? Er ist türkis, nicht hellblau. Und
atmungsaktiv. Schwuchtelig ist er, und das Oberteil spannt um seine
Problemzone.
Zu allem Ãbel kennt er die Hundebesitzerin, die ihn gegrüÃt und
damit das Malheur ausgelöst hat, überhaupt nicht. So etwas passiert ihm
häufiger. Sämtliche Menschen in seiner Umgebung scheinen ihn zu kennen, während
er längst nicht alle Gesichter zuordnen kann.
Er nickt der Frau zu, sonst heiÃt es hinterher wieder, er sei ein
arroganter Knochen, und die sagt: »Gut, dass Sie was für Ihre Kondition tun,
Herr Kommissar. In unserem Alter muss man schon dranbleiben, nicht wahr? Sonst
gehtâs rasant Richtung Grube.«
Unser Alter? Die Frau dürfte um die
sechzig sein. Frechheit. Völxen will gerade etwas Uncharmantes erwidern, da
antwortet der Herr neben ihm: »Genau, Frau Dauwe-Ewert, Sie sagen es. Schönen
Abend noch!«
»Und weiter gehtâs«, ruft Helga munter.
Völxen tritt an. Schnaubend, mit weit ausholenden Schritten geht es
voran. Das ist ja noch einmal glimpflich abgelaufen. Nicht auszudenken, die
Lästerei im Dorf, wenn sich herumgesprochen hätte, dass er sich beim Nordic
Walken auf die Schnauze gelegt hat.
»Kommissar?«, keucht er seinem Nebenmann zu.
»Ewald Osterholz. Hauptkommissar a. D. Seit einem halben Jahr in
Pension. Der pure Stress, sag ich Ihnen.«
»Wo waren Sie?«
»Kripo Gehrden. Sind Sie vom selben Verein?«, kombiniert Osterholz.
»Bodo Völxen, Polizeidirektion Hannover, Dezernat für
Todesermittlungen.«
»Ach, Sie sind das. Hab schon von Ihnen gehört.«
»Die Herren da hinten, bitte aufschlieÃen! Und nicht so viel
reden!«, schallt Helgas kräftige Stimme durch die Natur.
»Ja, ist ja schon gut. Alter Drachen«, brummt Osterholz leise vor
sich hin.
Völxen grinst. Mit der geballten Kraft seiner Muskeln und seines
Willens bringt er die Stunde zu Ende. Das heiÃt, er glaubt, dass die Stunde zu
Ende ist. Aber Helga befiehlt den Teilnehmern, sich im Kreis aufzustellen.
Völxen muss abwechselnd erst den rechten, dann den linken Fuà an den
Oberschenkel drücken und dabei auf dem jeweils anderen Bein stehen, wie ein
Kranich. Dabei biegt er sich wie eine Angelrute, an der ein Hecht kämpft.
»Stretching ist wichtig.«
Nach ein paar weiteren Verrenkungen lobt Helga ihre Gruppe: »Das
waren jetzt sieben Kilometer. Ihr wart sehr gut. Am besten nehmt ihr jetzt ein
warmes Bad â gegen den Muskelkater.«
»Noch auf ein Bierchen, Herr Kollege?«, fragt Kommissar a. D. Osterholz.
Völxen sieht an sich hinunter. Die Spuren seines Sturzes sind noch deutlich zu
sehen.
»Heute lieber nicht. Aber das nächste Mal gerne«, verspricht er.
AuÃerdem würde er niemals in diesem babyblauen Aufzug eine Kneipe betreten.
Nächste Woche wird er sich Kleidung zum Wechseln ins Auto legen.
Jule streift durch ihre Wohnung wie ein Zootier, das sich
gerade an ein neues Gehege gewöhnt. Seit ihrem Einzug am Montag hat sich schon
einiges verändert: Die Küche ist eingebaut, Telefon und Internet funktionieren.
Noch immer haben sich weder ihr Vater noch ihre Mutter bei ihr gemeldet. Kein
Anruf, keine E-Mail. Dabei hatte Jule nicht den Eindruck, dass sie ihren
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