Der Tote vom Maschsee
zugegriffen
hättest.«
Bei dem Wort Schaf zieht ihr Chef die buschigen Brauen über seinen
grauen Augen zusammen. »Vorsicht.«
»Apropos. Was macht deine Herde?«, leitet Oda ein kleines
Ablenkungsmanöver ein.
»Prächtig gehtâs denen, ganz prächtig.«
»Ist doch schön.«
»Ja.«
»Aber?«
Vor Oda kann man so gut wie nichts verbergen, zumindest Völxen kann
es nicht: »Ich habe Amadeus weggegeben. Den Schafbock. Das Mistvieh hat mich
angegriffen, mehrmals. Gegnern mit Hörnern bin ich einfach nicht gewachsen.«
Sein bekümmerter Blick wirbt um Verständnis und Absolution.
»Wo ist er jetzt?«
»Bei einem Schafzüchter in der Heide. Der will ihn zur Zucht
verwenden.« Völxen atmet schwer. Zucht. Das klingt ja erst mal nach Vergnügen.
Aber wie lange? Was passiert, wenn Amadeus mal nicht kann?
»Ist doch in Ordnung. Ein Paradies, sozusagen«, meint Oda.
»Meinst du wirklich?«
Oda grinst.
Resigniert entfernt sich Völxen aus ihrem Büro.
Oda Kristensen dagegen fragt sich, während sie sich den nächsten
Zigarillo ansteckt, ob die Wedekin, dieses junge Genie, wirklich zu ihnen
passt.
Fast jeden Tag geht Heinrich Hofer mit seinem Terrier
Nielsson am Ufer des Maschsees spazieren. Der Rundweg um den See beträgt gute
sechs Kilometer, aber Hofer geht meist nur am Westufer entlang und kehrt vor
dem Strandbad um. Das Westufer folgt dem krummen Lauf der Leine, und entlang
des Flusses findet sich eine nahezu unberührte Wildnis, was besonders der
Terrier sehr schätzt. Zu Weihnachten hat Hofer sich selbst eine Digitalkamera
geschenkt, und nun plant er die Anfertigung eines Fotokalenders. Den wird er
sich in diesem Jahr wiederum zu Weihnachten schenken, denn sonst gibt es
niemanden zu beschenken, höchstens den Hund.
Auch heute hat er seine Kamera dabei, während er mit Nielsson unter
den Bäumen am Wasser entlanggeht. Ein paar Segler sind auf dem Wasser, der Wind
weht kühl aus Nordost. Bald wird es hier noch voller werden, sowohl auf dem
Wasser als auch drum herum. Zum Glück gibt es auf dem schmalen Landstück
zwischen Fluss und Ufer getrennte Wege für FuÃgänger und für Radfahrer. Anderenfalls
wären Karambolagen mit Radlern und Inlinern unvermeidlich. So gehen einem nur
diese Idioten mit ihren klackernden Skistöcken auf den Wecker, aber von denen
sind heute erst wenige unterwegs.
Er betritt einen kurzen Holzsteg und prüft die Perspektive. Ja, von
hier hat man einen guten Blick über den See, der an dieser Stelle nur zwei-,
dreihundert Meter breit ist. Die Südstadt liegt quasi gleich gegenüber, fast
zum Greifen nah ist die Plattform des Restaurants Pier 51, auf der ein Kellner gerade die weiÃen
Sonnenschirme aufspannt.
Interessanter ist allerdings der Blick über die nördliche Hälfte des
Sees, hinüber zum schlossähnlichen Prachtbau des Neuen Rathauses, das so neu
auch wieder nicht ist, und zu den verschachtelten Glaswürfeln der Nord-LB.
Hofer bringt die Kamera in Position und wartet auf ein Segelboot,
das den Vordergrund des Bildes zieren soll. Nielsson kläfft.
»Sei still, Nielsson. Es geht gleich weiter.«
Aber der kleine weiÃe Hund gibt keine Ruhe.
Hofer lässt entnervt die Kamera sinken. »Was ist denn?«
Nielsson zieht an der Leine und bellt das Wasser an, das am Ende des
Stegs höchstens knietief ist. Hofer sieht nach unten und entdeckt eine helle
Fläche, etwa eine Handbreit unter der Wasseroberfläche. Er kneift die Augen
zusammen und starrt in ein Gesicht. Obwohl er zurückweichen will, muss er, vor
Schreck wie gelähmt, doch hinsehen: gelbgrüne Haut, spärliches dunkles Haar,
das wie Seetang auf dem runden Schädel wabert, die Augen des Mannes sind weit
offen und wirken gläsern, fast durchsichtig, der Mund ist eine dunkle Höhle.
Ein schlammfarbener Mantel schlackert langsam, im Takt der Wellen, um den Leib,
die Hände schimmern kalkweià durch das grünliche Wasser. Unterhalb der Knie
ragen die Beine bis unter den Steg, sodass Hofer im nächsten Moment klar wird,
dass er sozusagen auf einer Leiche steht.
»Heiliger Strohsack!« Hastig verlässt Hofer den Steg, den
widerstrebenden Nielsson hinter sich herzerrend. Nach wenigen Schritten ist er
wieder auf dem sicheren FuÃweg und begreift nicht, wie die Welt so normal
wirken kann. Vögel zwitschern, Radfahrer flitzen ahnungslos an ihm
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