Der Tote vom Maschsee
vorbei. Er
schaut sich zögernd um. Das silberne Glitzern der wellenbewegten
Wasseroberfläche blendet ihn und verwehrt so den Blick auf die Leiche, die da
drüben im Seichten dümpelt, ein paar Meter neben dem belebten FuÃweg. Eine
geradezu surreale Vorstellung. Hofer atmet schwer, greift sich an die Brust.
Jetzt bloà keinen Herzanfall bekommen. Zum ersten Mal bereut er es, sich noch
immer kein Mobiltelefon angeschafft zu haben. Aber wen sollte er damit
normalerweise auch anrufen? Er wendet sich um. Ein Herr in einem Anzug und
einem Trenchcoat, ähnlich dem, den die Leiche da unten trägt, nähert sich. Der
hat bestimmt so ein Ding in seiner Aktentasche.
»Wo fahren wir eigentlich hin?«
»Was essen.«
Ist das vielleicht eine klare Antwort? Ungehobelter,
selbstgefälliger Kerl, grollt Jule innerlich. Denkt wohl, er ist der groÃe
Zampano, mit seinen Espressoaugen und den Schmalzlocken. Nein, Junge, das wird
sich noch erweisen müssen, ob du genug drauf hast, um auf Dauer den Ton angeben
zu können. Apropos Ton: »Und warum haben wir Kerzen und Musik an und rasen wie
die Verrückten?«
»Du hast gesagt, du hast Hunger.«
Jule Wedekin ist während ihres dreijährigen Berufslebens als
Polizistin zu der Ansicht gelangt, dass es zwei Sorten von Polizisten gibt:
Die, die mit einem mulmigen Gefühl verkrampft am Steuer sitzen, wenn sie
Blaulicht und Sirene anhaben, und die, die es genieÃen und vermutlich deswegen
Polizist geworden sind. Zu welcher Gruppe Fernando gehört, ist sonnenklar. Sie
krallt sich am Sitz fest. Immerhin hat er ihr keine Vorwürfe gemacht, weil sie
sich vor den beiden Zeugen verplappert und von der Zunge geredet hat. Aber wer
konnte schon ahnen, dass dieser Schmiedel sein Wissen brühwarm an den Bild -Reporter weiterleiten würde? Und wie schnell dieser
Boris Markstein überhaupt vor Ort gewesen ist. Solche Kerle sind wie Fliegen,
die riechen das Aas kilometerweit.
Fernando ist an der Ausfahrt Linden-Mitte vom Westschnellweg
abgebogen und kurvt nun mit traumwandlerischer Sicherheit durch die engen
EinbahnstraÃen. Wenigstens Sirene und Blaulicht hat er inzwischen abgeschaltet.
Aber der Kollege scheint sich in diesem Viertel nicht nur gut
auszukennen, er ist hier offenbar auch bekannt. Jedenfalls wird er von einigen
Männern auf der StraÃe gegrüÃt. Dann fährt er Schritt und hält kurz an, es gibt
einen kleinen Wortwechsel â deutsch, spanisch, ein paar Brocken türkisch. Um
ungestört Konversation machen zu können, hat ihr Kollege die Seitenscheibe
heruntergelassen. Sein linker Ellbogen in der schwarzen Lederjacke liegt lässig
im Fensterrahmen. Machoarsch!
SchlieÃlich parkt Fernando vor einer Einfahrt mit einem Eisentor.
»Was ist damit?« Jule weist auf ein Schild am Tor, das Autofahrern
mit dem Abschlepphaken droht.
»Das geht in Ordnung«, sagt Fernando. Die Autowerkstatt hinter dem
Tor gehört seinem Freund Antonio, und der kennt die Dienstwagen der PD.
Nach Möglichkeit parkt Fernando fast jeden Mittag hier, und gelegentlich tun
Völxen und Oda es ihm gleich.
Sie überqueren die StraÃe und betreten einen karg eingerichteten
Laden. Metallregale, BetonfuÃboden, in der Mitte schnurrt eine Kühltruhe, und
am Endes des lang gezogenen Raums steht eine monströse Kühltheke mit frischen
Lebensmitteln: Schinken, Käse, Würste, eingelegte Oliven.
Eine Frau in Kittelschürze wieselt hinter der Theke hervor. Ihr Haar
ist tiefschwarz, mit grauen Strähnen durchsetzt und zu einem dicken Zopf
geflochten, der sich ihren Rücken hinunterwindet. Sie hat sichelförmige Augen,
dunkel wie schwarze Oliven, und eine schmale, gebogene Nase. Augen und Nase
sind gleich, registriert Jule. Auch der breite Mund zeugt von Verwandtschaft.
Nur dass Fernandos Oberlippe gründlicher rasiert ist.
»Fernando, mi corazón !« Pedra Inocencia
Rodriguez stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihren Sohn rechts und
links auf die Wangen, als hätte sie ihn seit Wochen nicht gesehen. Dann mustert
sie Jule mit unverhohlenem Interesse. Fernando stellt seine neue Kollegin vor,
wobei er das Wort colega betont.
» Bienvenida , Jule.« Frau Rodriguez spricht
ihren Namen Chule aus, mit einem harten, kehligen Ch. Dann wird auch Jule auf
beide Wangen geküsst. Frau Rodriguezâ Schnurrbart kitzelt ein wenig, und Jule
Wedekin muss dabei an das Gesicht ihrer Mutter
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